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Ein Krieg gegen die Verfassung

Von Miroslaw Wyrzykowski

Gastkommentare
Mirosław Wyrzykowski ist Professor für Verfassungsrecht in Warschau und war von 2001 bis 2010 polnischer Verfassungsrichter. Am Mittwochabend wurde ihm der Österreichische Verfassungspreis 2021 verliehen.
© Forum Verfassung / S. Klimpt

Der Preisträger des Österreichischen Verfassungspreises in seiner Dankesrede über die Situation in seiner Heimat Polen.


Mit dem Verfassungspreis werden Personen ausgezeichnet, deren Tätigkeit als wichtig und verfassungsrelevant anerkannt wurde. Verfassung, verstanden als Grundlage und Fundament von Staaten und Gesellschaften. Zu Fundamenten in diesem Sinne gäbe es viel zu sagen. Ein Bestandteil dieses Fundaments ist die Bildung, vor allem die staatsbürgerliche Bildung. Denn ein informierter, in der Schule gut ausgebildeter Bürger findet in der Verfassung einen Schild und ein Schwert. Einen Schutzschild, der vor dem Missbrauch öffentlicher Macht schützt und schützen soll. Und ein Schwert, mit dem ein Bürger seine verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten geltend machen kann.

Ein weiteres Bestandteil des Fundaments einer rechtsstaatlichen Demokratie ist eine freie Presse. Sie ist eine Voraussetzung für Demokratie. Sie ist eine notwendige Bedingung. Aus diesem Grund ist die Einschränkung der Pressefreiheit immer der erste Schritt für die Behörden eines zunächst autoritären und dann totalitären Staates. Aus diesem Grund gehören Journalisten zu den Berufsgruppen, die größten Risiken ausgesetzt sind, bis hin zur Lebensgefahr.

Dies sind geläufige Reflexionen zu den Fundamenten von Staaten und Gesellschaften im Verfassungskontext. Ereignisse der vergangenen Jahre an geografisch und kulturell so nahen Orten machen indes auf ein überraschendes und gefährliches Phänomen aufmerksam: Wir haben mitansehen müssen, wie die Verfassung eines demokratischen Landes zum Hauptfeind von Politikern mit autoritären Tendenzen wird. Wir erleben dies in Polen und Ungarn. Wir reiben uns erstaunt die Augen: Wie ist das möglich? Warum ist das so? Wo sind die Ursachen dafür? Wer schreibt die Anweisungen zur Zerstörung des Rechtsstaates?

In Polen, wo ich herkomme, haben wir keine Verfassungskrise. Die Verfassungskrise, die Krise der Rechtsstaatlichkeit, fand im Herbst 2015 statt. Es ist nicht lediglich eine Krise. Seit 2016 wird Krieg gegen die Verfassung geführt. Ein Krieg, der von den politischen Verfassungsorganen des Staates betrieben wird: dem Präsidenten, dem Sejm, also dem Unterhaus des Parlaments, dem Parlamentspräsidenten, der Regierung, dem Premier. Mittlerweile haben wir auch das erste Opfer des Krieges gegen die Verfassung zu beklagen: Paradoxerweise ist es das Verfassungsgericht.

Auf der anderen Seite der Front stehen die Verteidiger der Verfassung und ihrer normativen und symbolischen Werte. Wer sind die Verteidiger? Es sind Bürgerinnen und Bürger, die friedlich ihre Empörung gegen die Zerstörung der Grundlagen der Verfassung zum Ausdruck bringen: Grundlagen wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Gerichte, individuelle Rechte und Freiheiten, das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung in der Gesundheitsversorgung. Es sind Bürgerinnen und Bürger, die von der Polizei alleine wegen ihrer Teilnahme an legalen, friedlichen Demonstrationen festgenommen wurden. Die von angeblich nicht zu ermittelnden unbekannten Tätern mit Teleskopschlagstöcken angegriffen wurden. Es stellt sich heraus, dass es sich um nicht-uniformierte Polizeibeamte von Spezialeinheiten handelte.

Verteidiger der Verfassung

Tödliche Schläge durch die Staatsgewalt und gebrochene Hände während der Demonstrationen gehören auch zum Bild des heutigen verfassungswidrigen Staates. Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die die Verfassung verteidigen und dann dafür von politisch kontrollierten staatlichen Medien schikaniert und verleumdet werden. Zu den Verteidigern der Verfassung gehören die "Polnischen Großmütter", die sogar in einem Verein organisiert und bei allen Demonstrationen anwesend sind. Es gibt auch zahlreiche Stiftungen und Vereine, die Erwähnung verdienen: die Helsinki Foundation for Human Rights oder das Wiktor Osiatynski Archiv, das Civic Development Forum, Akcja Demokracja, Wolne Sady (Freie Gerichte) oder der Verein Z. Hoda.

Zu nennen ist ferner die fantastische Initiative "Tour de Constitution", die in mehr als 120 Städten unterwegs war. Zu nennen sind Rechtsanwälte, die - pro bono - Menschen, die ohne jede Grundlage angeklagt werden, vor Gericht vertreten. Zu nennen ist jene Friseurin in einer polnischen Kleinstadt, die sich jeden letzten Freitag im Monat alleine mit ihrem Plakat "Die Verfassung" einfach hingestellt hat. Zu nennen ist der stumme Schrei Piotr Szczesnys, der sich 2017 aus Protest vor dem Warschauer Kulturpalast selbst verbrannte und dessen Zeugnis Jahre später noch an dramatischer Aktualität gewonnen hat.

Zu nennen sind der polnische Bürgerbeauftragte Adam Bodnar und seine Mitarbeiter, über sechs lange Jahre die letzte staatliche Ein-Personen-Verfassungsbehörde - er war der Letzte, der seinem Amtseid treu blieb. Zu nennen sind die rechtmäßig ernannten Richter und Staatsanwälte, die, nur weil sie sich an die Verfassung und das geltende europäische Rechts halten, Schikanen und Nachteilen ausgesetzt sind. Bis hin dazu, dass ihnen das Recht verwehrt wird, ihren Beruf auszuüben. Die Immunität vor Strafverfolgung wurde ihnen genommen wegen rechtmäßiger Urteile. Wegen Urteilen, die den Unwillen gewisser politischer Instanzen erregt haben. Zu nennen sind die Staatsanwälte, die durch eine Vielzahl von Disziplinarverfahren unter dem unzutreffenden Vorwurf angeblicher Disziplinarvergehen Repressalien ausgesetzt sind. Die Staatsanwälte, die als Disziplinarmaßnahme an andere Dienstorte, hunderte Kilometer von ihrem Wohnort entfernt, versetzt werden.

Die Richter - und tapfere, mutige Staatsanwälte - haben die Vereine "Iuistitia", "Themis" und "Lex Super Omnia" gegründet. Sie waren es, die im Jänner 2020 den "Marsch der tausend Roben" organisiert haben. Einen Marsch, an dem 30.000 Menschen teilgenommen haben, darunter Richterinnen und Richter aus ganz Europa. Auch Richter aus Österreich, die heute zugegen sind. Die in diesem Saal anwesenden österreichischen Juristen, Diplomaten und Politiker sind von Anfang an die treuesten Freunde aller Verteidiger der polnischen Verfassung gewesen. Ich bedanke mich von ganzem Herzen.

Alle diese Verteidiger der Verfassung verkörpern die letzte Hoffnung, dass Polen nicht auf Dauer zu einem "verfassungsgescheiterten" Staat wird. Alle diese Verteidiger der Verfassung brauchen Unterstützung. Und die erhalten sie von zahlreichen europäischen Institutionen, NGOs, Freunden, viele davon unbekannten, aus der ganzen Welt. Eine solche Unterstützung für ganz viele Menschen ist der Verfassungspreis, den entgegenzunehmen ich heute die große Ehre habe. Ich danke Ihnen dafür. Ich stehe heute hier nur als bescheidener Vermittler für hunderte und tausende polnische Verteidiger der Verfassung.

Vaclav Havel hat das Wort von der "Macht der Machtlosen" geprägt. In diesem Sinne sind all die genannten Verteidiger der Verfassung alles andere als machtlos. Sie haben Macht: durch ihre Berufung auf absolute Werte, ihre höhere Loyalität gegenüber der Verfassung, ihre moralische Überlegenheit gegenüber der auf Zerstörung ausgerichteten Niedertracht. "Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben" - dies sind die ersten Worte der polnischen Nationalhymne. Gestatten Sie mir eine Abwandlung: Polen ist solange noch nicht verloren, wie es solche Verteidiger der Verfassung gibt. Hier schließe ich alle unsere österreichischen Freunde mit ein.