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Die polnische Frage

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Ob das EU-Recht wirklich immer über nationalem Recht steht, ist nicht so eindeutig, wie es den Anschein hat.


Es ist jetzt 160 Jahre her, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika jener Bürgerkrieg losbrach, der am Ende 600.000 Tote gefordert hat, mehr als jeder andere Krieg mit US-Beteiligung. Entgegen einem in Europa weit verbreiteten Missverständnis ging es dabei nicht unmittelbar ums Verbot der Sklaverei, sondern um die Frage, wer darüber zu entscheiden befugt war: der Bund oder der einzelne Bundesstaat. Da die Frage juristisch nicht geklärt werden konnte, wurde sie letztlich militärisch gelöst; mit dem bekannten Ergebnis.

Nun droht der EU 160 Jahre später zwar gottlob kein Bürgerkrieg, doch steht sie in gewisser Weise vor einer ähnlichen Problematik, spätestens seit der polnische Verfassungsgerichtshof verkündet hat, polnisches Verfassungsrecht stünde in bestimmten Fragen über dem EU-Recht. Das hat erwartungsgemäß zu einem Riesenwirbel geführt, weil in der EU weitgehender Konsens darüber besteht, dass das EU-Recht jenes der Nationalstaaten schlägt, Polen sich daher mit dem Spruch der Verfassungsrichter in gewisser Weise aus der EU ausschließt - und das Vorbildwirkung für andere unbotmäßige Mitglieder haben könnte. "Die Regierung in Warschau denkt offenbar, jedes EU-Land könne nach eigenem Belieben Entscheidungen der Luxemburger Richter für null und nichtig erklären. Sollte sich diese Einschätzung in der EU durchsetzen, käme das der Auflösung der Gemeinschaft gleich", warnte etwa ein Kommentar im "Tagesspiegel".

Doch so einfach ist das nicht. Der Vorrang des EU-Rechtes gilt bei näherer Betrachtung nach Ansicht vieler Juristen nur dort, wo die Nationalstaaten ihre Kompetenzen der EU übertragen haben; sonst eher nicht, wie etwa im konkreten Fall der Organisation des polnischen Justizwesens. In Deutschland argumentiert die in diesen Dingen stets präzise Bundeszentrale für politische Bildung ganz ähnlich: "Das Verhältnis zwischen EU-Recht und Grundgesetz kann bis auf den heutigen Tag als nicht eindeutig geklärt bezeichnet werden. Obwohl das europäische Recht prinzipiell Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht genießt, steht es nicht über dem Grundgesetz. Zwischen der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland und der europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung besteht kein Über- oder Unterordnungsverhältnis."

Dabei geht es nicht um juristische Spitzfindigkeiten, sondern ums Eingemachte.

Man kann es auch so sehen wie der deutsche Publizist Christoph von Marschall: "Polen ruiniert die EU? Von wegen. Brüssel ruiniert die EU mit seiner Übergriffigkeit. Genauer: die EU-Kommission und das EU-Parlament, assistiert vom Europäischen Gerichtshof. Sie verfolgen einen Weg, der die Lähmung der EU nicht mindert, sondern verschärft." Das ist, bei aller notwendiger Kritik am Rechtsverständnis der polnischen Regierung und der sie dominierenden rechtspopulistischen PiS, die den Rechtsstaat sukzessive aushöhlt, ein berechtigter Punkt. Den Rechtsstaat in Polen dadurch zu retten, dass sich die EU Kompetenzen anmaßt, die ihr so nicht zustehen, ist keine saubere Lösung des Problems.