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Autonom in den Tod?

Von Eva Novotny

Gastkommentare

Eine fixe Idee - Leben in Würde wäre eine prima Alternative.


Moderator Roman Rafreider fragte in der "ZiB Nacht" den Sterbehilfe-Aktivisten Wolfgang Obermüller, warum wir uns mit der Sterbehilfe in Österreich so schwertäten, andere Länder in der EU wären da "schon viel weiter". Wie selbstverständlich stellte er damit die Freigabe der Assistenz zur Selbsttötung als Fortschritt dar. Viele "fortschrittliche" Menschen sehen das ähnlich und berufen sich auf Freiheit des Willens, Autonomie des Subjekts und nicht zuletzt auf die Würde des Menschen. Akkurat zum Sterben werden diese Werte angerufen.

Wie viele Österreicherinnen oder Österreicher mögen Freiheit und Autonomie im Leben wohl (kennen)gelernt haben? Wer verfügt schon über die beglückende Erfahrung, sich Anerkennung durch Unabhängigkeit und Zivilcourage errungen zu haben? Viele scheuen Freiheit. Ein Leben nach eigener Wahl zu führen, wurde kaum jemandem nahegelegt. Ganz im Gegenteil. Als Tugenden und Erfolgsprinzipien galten und gelten immer noch Anpassung, Unterwerfung, sich Ausnutzen lassen für fremde Interessen.

So sind viele eher bereit, ihr Leben und das anderer aufs Spiel zu setzen, als aus der Reihe zu tanzen. Und sie wollen auch 50-jährig noch einen Einser in Betragen. Nicht weit herumgesprochen hat sich Oscar Wildes Einsicht: "Unbotmäßigkeit ist für jeden, der die Geschichte kennt, die recht eigentliche Tugend des Menschen. Durch Unbotmäßigkeit ist der Fortschritt gekommen, durch Unbotmäßigkeit und Aufsässigkeit." Exzentriker sind nicht nur glücklicher, sondern auch tüchtiger und gesünder. Vor allem leben sie würdevoller. Doch darum geht es im herrschenden Zeitgeist nicht. Freiheit wird da hauptsächlich als Unternehmensfreiheit gefeiert oder verkümmert zur viel bemühten "Selbstverantwortung", unter deren Banner Solidarsysteme untergraben werden.

Nun steht auch in Österreich eine neoliberale Auslegung des Sozialstaats als Dienstleister zum Tode an. Sowas rentiert sich. In Kanada gibt es schon Hochrechnungen, mit welchen Einsparungen durch weitere Liberalisierung, etwa Ausweitung der Sterbehilfe auf psychisch Kranke und Verkürzung der Bedenkphase, zu rechnen ist. In den reichsten Ländern der Welt wird Selbsttötung als Lösung für Probleme propagiert, die Resultate gemeinschaftlichen Versagens und gesellschaftlicher Versäumnisse darstellen. Triebfeder für einen Freitod sind nämlich wesentlich existenzielle Nöte - in Oregon (USA) beziehen 70 Prozent der Todeskandidaten Sozialhilfe. Ein freudloses Leben, Einsamkeit, der Verlust von Sinn, Autonomie und Würde sowie Scheu, anderen zur Last zu fallen, und Angst vor Schmerzen werden in erster Linie als Motive für den Todeswunsch angeführt.

Wenn die Selbsttötung nicht eigenhändig gelingt, soll künftig assistiert werden, womöglich durch öffentliche Dienste. Obermüller fordert unter Berufung auf "Autonomie und Würde des Menschen" einen Rechtsanspruch auf professionelle Sterbehilfe für alle - ohne Einschränkung auf Todkranke: "Der Staat muss sicherstellen, dass wohnortnahe Freitodhilfe angeboten wird", sagte er am 27. April im Ö1-"Journal Panorama".

Selbstverständlich wird von Propagandistinnen und Propagandisten der Sterbehilfe auf eine "autonome, wohlerwogene, frei verantwortliche Entscheidung" des Todesklienten gepocht. Kurz vor dem Tod geht es plötzlich um den "Achtungsanspruch des Menschen als zur Autonomie befähigtem Wesen". (Zitat Michael Fremuth, Leiter Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte)..

Eigensinn und Fremdsinn

Unbestritten, der Mensch ist prinzipiell zur Autonomie befähigt. Aber die beschworene Fähigkeit kann gegen Ende des Lebens - in höchster Bedrängnis - kaum abgerufen werden. Denn Autonomie ist eine hohe Kunst, die gelernt und ein Leben lang eingeübt werden muss. Sich selbst das Gesetz des Handelns zu geben - das bedeutet Autonomie -, erfordert einen guten Realitätssinn, viel mehr noch einen kreativen Möglichkeitssinn. Man muss sich frei machen können vom Glanz im Auge anderer, was ein stabiles Selbstwertempfinden erfordert und vor allem sozialen Mut. Anspruchsvolle Voraussetzungen

Demgegenüber treibt Menschen von je her ein "hartnäckiger Wille zur Botmäßigkeit" an (Étienne de la Boétie). Das veranschaulicht eine Geschichte des Psychoanalytikers Arno Gruen aus seiner Schulzeit: Eines Tages erklärte seine Lehrerin den Schülern, sie müsse wegen deren fehlender Disziplin zu neuen Mitteln greifen und sich einen Rohrstock anschaffen. Beim nächsten Lehrausgang fragte sie, wer ihn im Geschäft gegenüber besorgen wolle. Bis auf Arno balgten sich alle Buben um dieses Privileg.

Eigensinn als Grundlage von Autonomie ist die härteste Nuss, die es im Leben zu knacken gilt, denn auf vielen Wegen dringt Fremdsinn ins Individuum. Die Einverleibung der "Ordnung der Dinge" beginnt bereits früh im Leben. Wir bilden einen spezifischen Habitus aus, der uns hartnäckig das mögen lässt, was wir sollen. Institutionen wie Schule, Universität und Firma disziplinieren uns in der Folge. Die Kommunikationsindustrie trägt das Ihre dazu bei, unsere Köpfe und Körper gesellschaftlich einzupassen.

Die stärkste Droge für den Menschen ist allerdings der Mitmensch. "Nichts aktiviert die Motivationssysteme so sehr wie der Wunsch, von anderen gesehen zu werden, die Aussicht auf soziale Anerkennung, das Erleben positiver Zuwendung und (...) die Erfahrung von Liebe", betont der Neurowissenschafter Joachim Bauer. Das Lächeln eines Menschen zählt zu den stärksten Reizen, auf die unser neurobiologisches Antriebssystem anspringt.

Menschliche Aufmerksamkeit, Zuneigung, Dankbarkeit und sogar die bloße Aussicht darauf heben die Lebensfreude, senken die Schmerzempfindlichkeit, stärken das Immunsystem und dämpfen Angst. Bleiben soziale Anregungen aus, verkümmert unser Antriebssystem oder es entartet. Die Gefährdung sozialer Bindungen führt zu Aggression, die letztlich gegen sich selbst gerichtet wird. Soziale Isolation oder Ausgrenzung führt zu Apathie, Krankheit und Tod. Unsere Sehnsucht nach Liebe und Gemeinschaft kann wie eine Droge unseren Verstand vernebeln. Angst vor Liebesverlust treibt uns zu kritiklosem Mitlaufen. Selbstachtung und Mut sind dahin, damit auch unsere Würde.

Popanz "Freier Wille"

Unser Wille ist frei, insofern er durch unser Denken und Urteilen bedingt ist. Nur hinsichtlich eines reflexiven Wollens steht Freiheit sinnvollerweise zur Debatte. Reflexives Wollen erfordert die Bereitschaft oder Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit zu bündeln, Spannungen zu ertragen und auch gegen inneren Widerstand zu handeln. Tatsächlich können wir uns aber oft nicht von unseren Antrieben distanzieren. Mitunter erleben wir mangelnde Kontrolle über unser Wollen. Manchmal fühlen wir uns andererseits sehr identisch mit unserem Wollen und merken erst sehr spät oder gar nicht, dass wir spontan gegen eigene - höherstufige - Interessen gewollt/gehandelt haben.

Wenn uns etwa eine Situation einen Willen aufzwingt. Alles, was wir tun, entspringt zwar unserem Willen, wir wollen aber etwas, das wir im Grunde nicht wünschen. Als Getriebene wiederum verschmelzen wir mit unserem Tun, planen nicht, denken nicht, entscheiden nichts - wir sind selbstvergessen. In anderen Situationen erleben wir uns als Opfer unserer Impulsivität. Wir tun etwas, von dem wir nachher sagen: "Das wollte ich nicht!" Wir hätten es also nicht gewollt, hätten wir überlegt und geurteilt. Wir können auch gedanklich mitlaufen. Nicht Selbstdenken ist dann Grundlage unseres Willens, sondern überhaupt keine Überlegung. Eine verschärfte Form des Mitlaufens entsteht durch Suggestion. Andere beeinflussen unseren Willen. In uns entsteht zwar ein starker Wille, aber nicht durch unser Nachdenken, das gezielt ausgeschaltet wird. Unsere reflektierte Willensbildung wird umgangen, und wir fühlen uns nicht einmal unfrei.

Freiheit unseres Willens ist also harte Arbeit. Der Knackpunkt ist die Analyse seines Zustandekommens: Wessen Wille hat sich darin bereits niedergeschlagen? Leitet mich mein Denken und Urteilen im Sinne meiner Interessen? Wie komme ich diesen überhaupt auf die Spur? Solche Aufklärungsprozesse sind für starke, gesunde Menschen mitten im Leben schwer genug; aber wie steht es um schwer kranke, verzweifelte? Welche Bedingungen der Autonomie oder eines freien Willens sind bei diesen gegeben?

Unglücklich und lebensmüde sind sie vor allem, weil sie ihre Bedeutung verloren haben, sich hilflos und abhängig fühlen. Oft in existenzieller Not, in unfreundlicher Umgebung, ohne soziale Resonanz verlieren sie Vitalität und Perspektiven. Da ist keine Kraft für innere und äußere Konfliktbewältigung. In dieser Verfassung verschmelzen sie mit ihrem Elend. Keine Rede von reflexiver Distanz, die Denken und Urteilen ermöglichen und eine "autonome, wohlerwogene Entscheidung" gewährleisten könnte. Sie sind getrieben vom Wunsch nach Frieden, dem ersten oder letzten Lächeln ihrer Erben oder derer, die sie nicht länger belasten wollen. Vielleicht winkt die erste, jedenfalls aber die letzte Heldentat: Anerkennung durch den Freitod.

Das Leben verbessern

Der soziale Tod Kranker und Alter ist allerdings kein unabwendbares Schicksal. Menschen mit schwindenden Kräften müssen weder einsam sein noch geringgeschätzt und schon gar nicht vernachlässigt! Soziale Einbettung und liebevolle Betreuung könnten dem Willen zum Tode den Boden entziehen. Wir brauchen keine Gesetzesänderung, um den Suizid zu erleichtern, sondern für ein gutes Zusammenleben bis zuletzt. Dazu müsste der Sozialstaat dem neoliberalen Regime entzogen werden. Er hätte für die existenzielle Sicherheit aller zu sorgen. Damit Menschen füreinander einstehen, brauchen sie auch Raum und Zeit für Geselligkeit. Wohnen, Arbeiten, Bildung, Kunst und Kultur könnten gemeinwohlorientiert organisiert werden.

Neue - teils schon erprobte - Lebenskonzepte für Ältere wären auszubauen, etwa Mehrgenerationenwohnprojekte. Kleine Kinder und alte Leute passen exzellent zusammen, sie systematisch zusammenzuführen, lohnt sich für beide. Vor allem müssten Gesundungs- und Pflegeinstitutionen großzügig ausgestattet statt weiter kaputtgespart werden, auch mit ausreichend Mitteln gegen Angst und Schmerzen. Gut ausgebildetes und gut bezahltes Personal sollte unter schonenden Bedingungen arbeiten können. Gleiches gilt für professionelle Pflegepersonen für daheim. Und für Angehörige müssten die Grundlagen geschaffen werden, dass sie ihre Verwandten mit Leichtigkeit pflegen können, wenn sie möchten.

In Hospizen, wo die Wünsche der Sterbenden im Mittelpunkt stehen, verlieren diese erfahrungsgemäß ihre Todessehnsucht. In gut ausgestatteten palliativmedizinischen Institutionen können sie sanft und ohne Schmerz, bei Bedarf im Schlaf, ihr Leben in aller Ruhe beenden. So berichten viele aus der Praxis. Ein Rechtsanspruch für alle auf Palliativ- und Hospizbetreuung sowie auf psychosoziale Suizidprävention wäre also höchst an der Zeit. Niemand braucht durch die Hand eines Mitmenschen zu sterben. Die vielbeschworene Würde bewahren Menschen, indem sie bis zuletzt an den Händen vieler Wohlgesonnener leben.