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Vorfahrt

Von Ralf Beste

Gastkommentare
Ralf Beste ist seit September 2019 deutscher Botschafter in Österreich. Davor war der studierte Historiker als Journalist tätig, unter anderem für die "Berliner Zeitung" und den "Spiegel".
© Deutsche Botschaft Wien

Wo StVO draufsteht, steht nicht immer das Gleiche drin.


Auf meinem Weg in die Botschaft passierte ich kürzlich eine Abbiegung, an der die Fahrradspur frisch mit roter Farbe markiert war. Das soll offenbar abbiegende Autofahrer auf Radler hinweisen. Ich habe mich darüber gefreut. Ich weiß zwar nicht, wie viel die Farbe bewirkt, aber ich weiß, dass ich an dieser Stelle häufig von abbiegenden Autos geschnitten wurde.

Als Diplomat bewege ich mich jetzt auf gefährlichem Gelände. Wenige Fragen sind umstrittener als der Umgang zwischen Auto- und Radfahrern. Aber die diplomatische Immunität, die Botschafter genießen, erstreckt sich eben nicht auf alle Aspekte der körperlichen Unversehrtheit. Medizinisch sollte das spätestens seit der Pandemie klar sein. Auch als Verkehrsteilnehmer weiß ich um meine Verletzlichkeit. Und ich habe festgestellt, dass zwei Länder, die beide über eine Straßenverkehrsordnung verfügen, in Verkehrsfragen doch so manche Unterschiede aufweisen. Mehr jedenfalls, als die Hinweisschilder auf unterschiedliche Tempolimits an der Staatsgrenze glauben lassen.

Zum Beispiel das Abbiegen. In beiden Ländern gilt: Fahren zwei Fahrzeuge nebeneinander in eine Richtung, muss dasjenige warten, das beim Abbiegen die Spur des anderen kreuzt. So weit so logisch. Die eine StVO enthält jedoch einen Katalog von Fahrzeugen, die gegenüber dem Abbiegenden Vorfahrt haben - darunter auch Fahrräder. Die andere nicht.

In dieser Kolumne habe ich schon häufiger beschrieben, dass Deutsche die Dinge lieber genau regeln, Österreicher dagegen mit weniger Penibilität gut zurechtkommen. In diesem Falle würde ich mir etwas mehr davon wünschen. Ich gebe zu, der Eigennutz spielt eine Rolle: Denn ich habe tatsächlich das Gefühl, in Österreich als Radler (noch) häufiger von abbiegenden Autos ignoriert zu werden.

Zum Ausgleich ein anerkennendes Beispiel: Auf innerstädtischen Straßen in Österreich finde ich selten das Schild, das "Vorfahrt an der nächsten Kreuzung" signalisiert - auch wenn in der Nebenstraße Schilder zum "Vorfahrt achten" und "Stop" aufrufen. Den Schilderwald zu lichten, finde ich gut. Aber wie, habe ich österreichische Freunde gefragt, weiß man ohne dieses Schild, dass man Vorfahrt hat? Antwort: Die Schilder seien aufgrund ihrer Silhouette auch von hinten zu erkennen. Dass Österreicher diese Silhouette schräg von hinten auch an dunklen Novemberabenden erkennen, nötigt mir Respekt ab. Ich brauche dafür länger. Also: Wenn Sie ein sich langsam vorantastendes Auto in einer Vorfahrtstraße oder einen Radler, der sich nervös umschaut, vor sich haben - zeigen Sie Geduld: Es könnte der deutsche Botschafter sein.