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Russland-Politik mit Dostojewski

Von Ralph Schöllhammer

Gastkommentare

Warum heutige Politiker russische Literatur des 19. Jahrhunderts lesen sollten.


Heute, am 11. November, hätte der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski seinen 200. Geburtstag gefeiert. Dostojewski und Lew Tolstoi (der in sieben Jahren ebenfalls 200 Jahre alt geworden wäre) stellen den Höhepunkt russischen literarischen Schaffens dar, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass in der gesamten Literaturgeschichte nur wenige das Niveau dieser beiden Giganten erreicht haben. Doch Dostojewskis Relevanz beschränkt sich nicht nur auf das 19. Jahrhundert, sondern betrifft auch die aktuellen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen.

Eines der wichtigsten Themen seiner Romane ist die komplexe Beziehung zwischen Rationalität und Moral, Emotion und Berechnung. In "Schuld und Sühne" verarbeitet Dostojewski sein wichtigstes philosophisches Argument, nämlich dass sich die menschliche Existenz nicht auf eine maschinelle Nutzenmaximierung reduzieren lässt. In "Die Dämonen" beschreibt er, wie das zaristische Russland von allen Seiten durch neue Ideologien attackiert wird, und verschiedene -ismen von Nihilismus bis Sozialismus um die russische Seele ringen.

Während in den europäischen Salons das Zeitalter der Vernunft gefeiert wurde, sah Dostojewski, was sich im Schatten der Moderne formierte: politische Religionen und die Keimzellen des Totalitarismus, die Europa und die Welt in den Jahren nach seinem Tod mit industriellem Massenmord unvergleichlichen Ausmaßes überzogen haben. Wie sein russischer Landsmann, der Literatur-Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn, einmal feststellte: "Es scheint als ob einzig und allein Dostojewski das Kommen des Totalitarismus voraussah."

Und hier ist die zeitgenössische Relevanz von Dostojewski: Obwohl er ein russischer Autor war, war sein Denken und sein Verstehen der Welt tief von der europäischen Aufklärung und den Widersprüchen der Moderne geprägt. Die Probleme, die er anspricht, beschäftigten auch den französischen Novellisten Gustave Flaubert - der ebenfalls 1821 geboren wurde - in seinem Buch "Madame Bovary". Ebenso sind Tolstois "Krieg und Frieden", aber insbesondere "Anna Karenina" nicht einfach angestaubte Romane, sondern komplexe Auseinandersetzungen mit den Verwerfungen, die durch ein sich rapide modernisierendes Europa entstanden sind. Es ist schade, dass russische Literatur nur einen so bescheidenen Stellenwert im westeuropäischen Schul- und Universitätssystem einnimmt, da ein besseres Verständnis von hoher Bedeutung für die aktuelle Politik gegenüber Russland wäre.

Ein Spiegelbild Westeuropas

Obwohl Russland bereits zur Zarenzeit aufgrund seiner Geschichte und schieren geografischen Ausbreitung eine Sonderstellung einnahm, waren die Eliten des Landes in ihrer kulturellen Prägung nur schwer von westeuropäischen Nationen zu unterscheiden. Aber auch in anderen Bereichen durchlief das Land eine Entwicklung, die spiegelbildlich auch im Rest Europas stattfand. So nahm im 19. Jahrhundert die Bedeutung der Religion ab und wurde durch einen wachsenden Nationalismus ersetzt, Industrialisierung, ethnische Konflikte, der Wunsch nach mehr politischer Beteiligung eines wachsenden Bürgertums - all das fand von Washington bis London, von Wien bis Berlin überall im Westen statt.

Der tatsächliche Bruchpunkt Russlands mit dem Westen fand mit der Bolschewistischen Revolution 1917 statt, und dieses Datum hängt immer noch wie ein Damoklesschwert über einer tatsächlichen Annäherung zwischen Russland und dem Westen. Es war die Entstehung der Sowjetunion, die Russlands Geschichte als europäische Kulturnation auslöschte. Ein Land, das Dostojewski, Tolstoi und Peter Iljitsch Tschaikowski hervorbrachte, dessen Kaiserin Katharina einen regen Austausch mit den Aufklärern Denis Diderot und Voltaire pflegte, wurde zu einem Gulag-Staat und eines der ersten totalitären Experimente.

Bis heute leidet Russland an der Bipolarität seiner Geschichte, aufgrund derer es sich sowohl als europäisches als auch nicht-europäisches Land versteht. Noch schlimmer wiegt, dass in der historischen Erinnerung der Sowjetunion gelungen ist, was dem "europäischen" Russland verweigert blieb: der Aufstieg zur absoluten Supermacht zur Zeit des Kalten Krieges.

Kulturelle Annäherung

Was die Situation zusätzlich verschlimmert, ist, das die Wahrnehmung Russlands im Rest der Welt immer noch zu sehr durch die Sowjetunion geprägt ist. Mit wenigen Ausnahmen beginnt das Wissen über Russland in der österreichischen Polit- und Universitätslandschaft mit Wladimir Lenin und Josef Stalin, während die europäische Periode nahezu komplett ausgeklammert wird. Wer mit dem Kreml immer noch so verhandelt, als würde es sich um die UdSSR handeln, darf nicht über eine post-sowjetische Außenpolitik überrascht sein.

Eine Annäherung an Russland müsste primär im kulturellen Bereich stattfinden und damit auch Russlands Eliten daran erinnern, dass ihre Zukunft im Westen und nicht in einem - bereits einmal gescheiterten - Bündnis mit China liegt. Das Betonen gemeinsamer historischer Erfahrungen und die Anerkennung der kulturellen Leistungen Russlands wären vertrauensbildenden Schritte, die gerade bei einer von Selbstzweifeln geplagten Nation großen Widerhall fänden. Vielleicht könnte man im Zuge von Dostojewskis rundem Geburtstag darüber in Wien und Brüssel einmal nachdenken.