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Welche Zukunft hat die EU?

Von Heinz Handler

Gastkommentare
Heinz Handler ist Dozent an der Technischen Universität Wien und stellvertretender Vorsitzender der Querdenkerplattform: Wien-Europa, www.querdenkereuropa.at.
© privat

Haben die wiederkehrenden Krisen den Integrationsprozess in Europa geschwächt oder gestärkt?


Noch zu Beginn des Jahrhunderts war die europäische Integration von Erfolgen wie der Euro-Einführung und der Osterweiterung geprägt. Dann folgten aber die globale Finanzkrise (2008/09), die Eurokrise (2010 bis 2012), die Flüchtlings- und Migrationskrise (2015/2016) und der Brexit (2020) - überlagert wurden und werden all diese Einzelkrisen vom schon lange schwelenden Klimawandel und nun auch von der weltweiten Corona-Pandemie.

Diese Abfolge von Krisen hat in der EU allmählich zu einer Identitätskrise geführt, die zeigt, dass das Integrationsgebilde nicht auf einem unverrückbaren Fundament steht, sondern laufend gerechtfertigt und allenfalls an neue Entwicklungen angepasst werden muss. Die sukzessiv steigende Zahl der Mitgliedstaaten von ursprünglich 6 auf bis zu 28 hat die Heterogenität des politischen Meinungsspektrums und der Wirtschaftsstrukturen so weit erhöht, dass das umspannende Integrationsband zu reißen droht. Eine schmerzliche Folge war das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU per Ende Jänner 2020. Damit ist die globale Bedeutung der EU als führender Wirtschaftsblock und als politischer Widerpart gegen Machtinteressen von USA, Russland und China geschrumpft.

"Mehr Europa" oderein "besseres Europa"?

Die Krisen seit Beginn des Jahrhunderts haben die Grenzen einer weitgehend abstrakten Europa-Idee aufgezeigt. Auf Gemeinschaftsebene gibt es nur wenige anerkannte Institutionen, über die "Europa" der Bevölkerung auf nationaler Ebene ausreichend nähergebracht wird. Von den wahlgetriebenen nationalen Politikern sind keine Initiativen zur Beschränkung ihrer eigenen Position zu erwarten, weshalb es ohne äußeren Druck auf absehbare Zeit keine verfassungsmäßig abgesicherte entscheidende Stärkung der EU-Ebene geben wird.

Ist die EU auf dem Weg zu einem Kerneuropa mit differenzierter Peripherie, wenn nicht überhaupt zur Auflösung? Diese Frage wurde im Zusammenhang mit der Finanzierung der Maßnahmen gegen die Corona-Krise virulent, als sich Polen und Ungarn dem Vorwurf der Verletzung der Rechtsstaatlichkeit ausgesetzt sahen. Die EU-Kommission hat gegen beide Länder Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags eingeleitet. Ein beharrliches Abweichen eines Mitgliedstaates von zentralen Grundsätzen der EU kann letztlich nur über einen Austritt gelöst werden - es sei denn, die EU kann sich zu einem System entwickeln, das neben dem Kern der Union eine Peripherie von Ländern mit eingeschränkten Rechten und Pflichten kennt.

Die Göttinger Wirtschaftsprofessorin Renate Ohr setzt sich dafür ein, statt "mehr Europa" ein "besseres Europa" anzustreben, das den Mitgliedstaaten mehr Flexibilität zugesteht. Nur wenn nicht immer alle Mitglieder mit ihren unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen sämtliche Integrationsschritte mitzumachen hätten, würden sie sich weiterhin mit der Union identifizieren. Es gelte, die bisherigen Errungenschaften der europäischen Integration zu betonen und die Integrationsbereitschaft nicht durch Forderungen nach einer "immer engeren Union" aufs Spiel zu setzen. Europa hat sich ohnehin bereits zu einer Art der Patchwork-Kontinent entwickelt. Eine weitere Zersplitterung innerhalb der EU ist zwar nicht anzustreben, könnte aber der Preis für die weitere Vertiefung im Kern sein.

Die Pandemie im Spiegelder Vorgängerkrisen

Von der Corona-Krise wurde die EU zu einem Zeitpunkt getroffen, als sie die vorhergehenden Krisen noch nicht verkraftet hatte. Viele Aspekte der Pandemie erinnern an die früheren Krisen. An die Flüchtlingskrise gemahnen die Lockdowns und Grenzschließungen, an die Euro-Krise die enormen staatlichen Hilfen und ihre Finanzierung. Im Unterschied zur Finanzkrise, die durch wirtschaftliche Ungleichgewichte ausgelöst wurde, sind diese nun eine Folge der Krise. In der Migrationskrise konnte man die Bedrohung in Zahlen messen, die Pandemie brachte die Gefahr eines sich schleichend anbahnenden Kollapses des Gesundheitssystems.

Manche der über Jahre entstandenen politischen und wirtschaftlichen Risse zwischen den EU-Ländern wurden vom Covid-Schock kurzfristig zugedeckt. Sie traten aber wieder hervor, als die ersten Notmaßnahmen die Pandemie einzudämmen schienen. Dazu kamen neue, durch die Corona-Krise selbst ausgelöste Streitigkeiten, etwa um die Zulassung und Verteilung von Covid-Impfstoffen oder um binnenmarktwidrige Grenzschließungen. Die Konfliktlösung kostete dann nicht nur viel Zeit, sondern zeigte auch (wieder einmal) die Grenzen der Integrationsbereitschaft in Europa auf.

Zur Begrenzung der wirtschaftlichen Schäden der Pandemie waren auf nationaler und EU-Ebene enorme Mittel aufzuwenden, um Wachstum anzuregen, Arbeitslosigkeit einzudämmen und Verteilungsprobleme zu begrenzen. Gemeinsam mit den Verhandlungen zum mittelfristigen EU-Budget gelang das Kunststück, das temporäre Aufbauinstrument "NextGenerationEU" im Ausmaß von 750 Milliarden Euro auf die Beine zu stellen. Besonders bemerkenswert war der Konsens über eine einmalige Refinanzierung dieser Mittel bis 2058 über gemeinschaftliche Schuldtitel mit solidarischer Haftung aller Mitgliedstaaten ("Corona-Bonds").

Die Projekte werden allerdings wiederum von den Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten dominiert, selbst wenn einige gemeinschaftliche Ziele (Übergang zu einer grünen Wirtschaft, digitaler Wandel) berücksichtigt werden. Auf diese Weise sind Mitnahmeeffekte programmiert: Ein Blick über die eingereichten Projekte vermittelt den Eindruck, dass ein erheblicher Teil auch ohne Corona-Krise verwirklicht worden wäre - vielleicht aus Mangel an ausreichender Finanzierung erst mit Verzögerung. Optimal wäre gewesen, die Projekte nach gemeinschaftlichen Notwendigkeiten des Wiederaufbaus von einem unabhängigen (dem EU-Parlament berichtspflichtigen) Gremium festlegen zu lassen.

Die Zukunftskonferenzals Chance

Langfristig wird eine weitere Vertiefung des EU-Integrationsziels nur zu erreichen sein, wenn die demokratische Legitimation der EU-Institutionen gestärkt und die Gewaltenteilung besser verankert wird. Um die Wähler ausreichend mit europäischen Fragestellungen und Standpunkten vertraut zu machen, bedarf es politischer Parteien, die nicht überwiegend in nationale Probleme verstrickt sind, sondern europäisch argumentieren und werben können.

Um das bisher erreichte Integrationsniveau zu halten und mit Leben zu erfüllen, sollte dem Subsidiaritätsprinzip konsequenter als bisher Rechnung getragen werden. Als Gegenleistung könnte von den Mitgliedstaaten mehr Solidarität bei gemeinschaftlichen Anliegen eingefordert werden. Im daraus resultierenden System wären gesamteuropäische Ziele auf der EU-Ebene (top-down) zu definieren, die Umsetzung sollte aber auf nationaler und regionaler Ebene (bottom-up) erfolgen, dort nämlich, wo der politische Kontakt zu den betroffenen Personen mit ihren Bedürfnissen laufend gepflegt wird. Die Kontrolle der Umsetzung müsste dann wieder einheitlich auf europäischer Ebene angesiedelt sein.

Die Kaskade von Krisen, denen die EU in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten ausgesetzt war, hat das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Europäern tendenziell gestärkt. Dies sollte für die EU-Zukunftskonferenz genutzt werden, um die von den Skeptikern der europäischen Integration aufgeworfenen Fragen und Anliegen aufzugreifen und zum Teil mitzunehmen (einschließlich der Forderung nach Sicherung der EU-Außengrenzen und Milderung der Globalisierungsfolgen). Die EU könnte so zu einem Vorbild für das friedliche Miteinander unterschiedlicher Länder mit nicht deckungsgleichen Kulturen werden.