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Die EU ist am Westbalkan weg vom Fenster

Von Franz Schausberger

Gastkommentare

Viele Bedingungen für weitere Schritte zur EU-Annäherung wurden erfüllt, die EU hält aber ihre Versprechen nicht.


Die sich verschärfende Corona-Krise verdeckt immer mehr den Blick auf alle anderen drängenden Fragen der EU, darunter vor allem auch das Erweiterungsdebakel am Westbalkan. Die EU ist dort abgemeldet, hat ihre Glaubwürdigkeit verloren, die dortigen Politiker bekräftigen zwar immer noch, dass ihr Ziel der EU-Beitritt sei, wenden sich aber längst von Brüssel ab und suchen andere Verbündete. Derweilen streiten die EU-Staaten ergebnislos um verschärfte Sanktionen gegen einige dieser Staaten und fordern mit erhobenem Zeigefinger die Einhaltung von Demokratie und rechtsstaatlichen Prinzipien, die sie nicht einmal im eigenen Kreis durchzusetzen in der Lage sind.

Der vor sieben Jahren von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel ins Leben gerufene "Berlin-Prozess" zur Westbalkan-Erweiterung musste Anfang Juli 2021 seine Ergebnislosigkeit feststellen. Auch der Westbalkan-Gipfel Anfang Oktober in Slowenien brachte keine Einigung der EU-Regierungschefs und endete in warmen Worten ohne Perspektive. Dies trotz der Tatsache, dass einige wichtige Westbalkanländer die Bedingungen für weitere Schritte zur EU-Annäherung erfüllt haben. Das im Gegenzug von der EU Versprochene wurde wieder nicht eingehalten. Auch das Regierungsprogramm der künftigen deutschen Regierung bleibt bei der leeren Rhetorik der "europäischen Perspektive" und der "gemeinsamen Werte", wie man sie seit Jahren sattsam kennt.

Vor 30 Jahren, im Herbst 1991, wurde Bosnien in eine monatelange Krise gestürzt, die zu dreieinhalb Jahren Krieg mit furchtbaren humanitären Gräueltaten führte. Beendet wurde dieser Bürgerkrieg durch das Friedensabkommen von Dayton 1995. Dieses wurde durch demokratisch nicht legitimierte Gesetzeserlässe des mächtigen Hohen Repräsentanten immer wieder verändert, was zu heftigen Widerständen vor allem bei den serbischen Repräsentanten und zu zahlreichen innenpolitischen Krisen führte.

Vorhersehbare Krise in Bosnien-Herzegowina

Nun durchläuft Bosnien-Herzegowina wohl wieder eine solche Krise. Der neue Hohe Repräsentant - wohl noch nicht ganz mit den seit langen üblichen Drohgebärden der nationalen Stammesführer vertraut - warnte vor der "schwersten existenziellen Bedrohung der Nachkriegsperiode" in Bosnien-Herzegowina, schloss sogar ein Auseinanderbrechen des Landes und einen militärischen Konflikt nicht aus. Viele Medien in Westeuropa rapportierten dies genüsslich in ihre Länder und feuerten damit den Konflikt erst recht an. "Da ist viel Alarmismus im Spiel, mit dem der ‚High Rep‘ und manche Experten sich gewichtiger machen wollen", kommentierte die "Neue Zürcher Zeitung". Eine genaue Kenntnis der Region zeigt, dass die dortigen Politiker und ihre außereuropäischen Verbündeten ein nicht ungefährliches Spiel treiben.

Richtig ist, dass seit mehreren Monaten die staatlichen Institutionen in Bosnien-Herzegowina vor allem durch den Boykott durch die serbische Seite gelähmt sind. Ausgelöst wurde die Krise durch eine gut gemeinte Maßnahme des scheidenden Hohen Repräsentanten, die allerdings das einigermaßen friedliche Zusammenleben der drei Nationalitäten vorhersehbar erschüttern musste: Die Leugnung des von Serben an bosniakischen Muslimen begangenen Massenmorden als Völkermord wurde verboten und unter Strafe gestellt. Gut gemeint ist, wie man weiß, oft das Gegenteil von gut.

Diese Aktion nach 30 Jahren wurde nun erwartungsgemäß von den Serben als Provokation empfunden. Milorad Dodik, das bosnisch-serbische Mitglied der dreiköpfigen Präsidentschaft des Landes, hat schon immer die Funktionsfähigkeit des Staates Bosnien-Herzegowina in Frage gestellt und gerade vor Wahlen immer wieder mit der Sezession des serbischen Teils, der Republika Srpska, gedroht und damit die Wahlen gewonnen. Die Schaffung eigener serbischer Streitkräfte in seiner Entität wurde immer wieder angekündigt. Da Dodik aber auch durchaus Pragmatiker ist,
ist es nie zu konkreten Aktivitäten in diese Richtung gekommen. Die gegebene Zustimmung zur Gründung gemeinsamer Streitkräfte von Bosnien und Herzegowina ist nach wie vor in Geltung.

Die USA verhängten Sanktionen gegen Dodik persönlich, was ihn wenig berührte, von vielen europäischen Ländern wurde er als "dirty kid" behandelt und nicht mehr empfangen - vom Papst jedoch schon. Ein notwendiger Dialog wurde nicht geführt. Noch mehr Abschottung, noch mehr nationalistische Einigelung waren die Folge. Die schlechten Beziehungen zwischen dem Serbenführer Dodik und dem Bosniaken-Führer Bakir Izetbegovic sind gegenseitig vorteilhaft. Die beiden brauchen den jeweils anderen für ihr politisches Überleben.

Wann immer Dodik die Möglichkeit eines Referendums zur Unabhängigkeit der Republika Srpska von Bosnien ankündigt, punktet Izetbegovic in seinem bosnischen Wahlkreis. Und wenn Izetbegovic eine offensive Rhetorik gegen Dodik wettert, beschreibt dieser ihn schnell als den "größten Feind" des serbischen Volkes. Je stärker die russische Unterstützung für die Republika Srpska und die brüderliche Beziehung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu Izetbegovic, desto sicherer fühlen sich Dodik und Izetbegovic, was wiederum zur Verlängerung der politischen Krise im Land beiträgt.

Die gefährliche Ignoranz mancher starker westeuropäischer EU-Mitgliedstaaten gegenüber dem Westbalkan führt zu geradezu skurrilen Allianzen außerhalb des Einflussbereichs der EU. China, Russland und die Türkei bauen ihren Einfluss auf die gesamte Region aus. In jüngster Zeit pilgerte nicht nur der Bosniaken-Führer Izetbegovic zum türkischen Präsidenten Erdogan, den er als "Genie" bezeichnet. Auch Dodik kam für ein äußert freundschaftliches Treffen nach Ankara. Von Erdogans guten Beziehungen zu den Serben würde Bosnien-Herzegowina profitieren, erklärte Dodiks Intimfeind Izetbegovic.

Frust in Nordmazedonien und Albanien

Der jüngste Besuch des EU-Erweiterungskommissars Oliver Varhelyi im bosnisch-serbischen Banja Luka war wiederum ein gut gemeinter Versuch eines Dialogs auf Augenhöhe, endete aber ergebnislos. Dabei gäbe es durchaus Lösungsmöglichkeiten: eine Bekräftigung des Status quo von Bosnien-Herzegowina seitens der EU auf der Grundlage des Dayton-Abkommens, wie es von den Serben verlangt wird, oder die Erfüllung des Wunsches der bosnischen Kroaten nach einem Wahlgesetz, das es ihnen ermöglicht, ihr Mitglied im dreiköpfigen Staatspräsidium selbst zu wählen und nicht von der bosniakischen Mehrheit aufgezwungen zu bekommen, und dafür die Zusage von Serben und Kroaten, den Bestand von Bosnien-Herzegowina nicht in Frage zu stellen. Dies wäre das Zugeständnis an die Bosniaken.

Wenn dies einmal alles klar vereinbart ist, kann in weiterer Folge durchaus über gemeinsame Reformen verhandelt werden. Bosnien-Herzegowina aber wird sicher ein sehr stark föderalisierter Staat mit eher schwachen gesamtstaatlichen Institutionen bleiben - wie das ja schließlich auch in Belgien mit den äußerst eigenständigen Gemeinschaften (flämisch, französisch, deutschsprachig) der Fall ist.

Enttäuscht und genervt hat der nordmazedonische Premier Zoran Zaev nach den verlorenen Lokalwahlen aufgegeben. Gegen schier unüberwindliche Schwierigkeiten und trotz heftigster innenpolitischer Attacken hat er es geschafft, den jahrelang schwelenden Kampf mit Griechenland um den Namen seines Landes zu beenden. Dies war die von der EU vorgegebene wesentlichste Voraussetzung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit dem Land, das seit 2005 (!) den Kandidatenstatus hat. Es war ein entscheidender Beitrag Zaevs für den Frieden am Westbalkan.

Keine, aber auch wirklich keine der gegebenen Zusagen seitens der EU wurden eingehalten, Zaev erhielt dafür von der Bevölkerung bei den Lokalwahlen vor kurzem die Rechnung präsentiert. Nachdem Nordmazedonien geliefert hatte und auch der Nato beigetreten war, legten sich zuerst Deutschland, dann Frankreich und die Niederlade und nun Bulgarien - mit der geradezu kindischen Forderung, Nordmazedonien müsse erklären, dass es historisch und sprachlich ein Teil Bulgariens sei - quer. Und Brüssel ist nicht in der Lage, das von Korruption und innenpolitischer Instabilität geschüttelte EU-Mitgliedsland Bulgarien zu einer Aufgabe dieser unsinnigen Blockade zu zwingen.

Mit klammheimlicher Freude betrachtet Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dieses Spiel der Bulgaren. Er will sowieso keine Erweiterung am Westbalkan. Die Schmutzarbeit lässt er andere erledigen. Die EU-Kommission ist machtlos. Dass die Enttäuschung über die EU auch in Albanien über alle Maßen groß ist, darf nicht verwundern. Albanien war im Doppelpack mit Nordmazedonien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen vorgesehen. Nun ist es mitblockiert.

Montenegro vor einer schweren Finanzkrise

Seit elf Jahren ist Montenegro nun Beitrittskandidat der EU, die Beitrittsverhandlungen laufen schleppend. Die langjährige auf eine Person zugeschnittene Führung des Landes, die instabile innenpolitische Situation und die heftigen Auseinandersetzungen zwischen serbischer und montenegrinischer orthodoxer Kirche sind in der EU kein großes Thema, weil das Land seit 2017 Nato-Mitglied ist. In Montenegro war der Nato-Beitritt allerdings umstritten, knapp die Hälfte der Bevölkerung war dagegen. Überdies steht Montenegro wegen eines weit überdimensionierten Autobahnprojekts mit einer knappen Milliarde Euro bei China in der Kreide und vor einer schweren Finanzkrise.

Dem Kosovo wurde von der EU die Visa-Liberalisierung, wie sie alle anderen fünf Westbalkanstaaten genießen, versprochen, sofern die Grenzstreitigkeiten mit Montenegro gelöst werden. Nachdem die Grenzfragen in mühsamen Verhandlungen in einem Abkommen 2020 geklärt worden war, passierte seitens der EU rein gar nichts. Bis heute warten die Menschen im Kosovo auf die Visa-Erleichterungen, der Frust ist enorm. Nicht zuletzt aufgrund des außergewöhnlichen politischen Drucks des Sondergesandten der USA, Richard Grenell, kam es im Februar zu neuerlichen Parlamentswahlen innerhalb von eineinhalb Jahren, die eine klare Mehrheit für eine links-nationalistische Partei brachten, was die äußerst komplizierten und zähen Verhandlungen mit Serbien nicht gerade erleichtert. Die ernsthafte Gefahr einer gewaltsamen Eskalation zwischen den beiden Staaten im September konnte gerade noch durch Mitwirkung der EU vorerst verhindert werden.

Mut- und Perspektivenlosigkeit prägen die Westbalkan-Erweiterungspolitik der EU-Staaten. 2018 legte der damalige Erweiterungskommissar Johannes Hahn eine Strategie für den Westbalkan vor, die das Jahr 2025 als möglich für die ersten Beitritte erachtete. Davon ist heute überhaupt keine Rede mehr. Auch das von ihm vorgelegte weitblickende Modell für eine kleine Freihandelszone, einen kleinen gemeinsamen Markt der sechs Westbalkanstaaten, ist in der Versenkung verschwunden.

Schluss mit den allgemeinen Floskeln der EU-Vertreter, derer die Bürger der Region so überdrüssig sind! Konkrete Verhandlungen auf Augenhöhe über konkrete Reformen, verbunden mit konkreten Angeboten und einem konkreten Zeitplan, wie ihn der damalige österreichische Kanzler Sebastian Kurz in Laibach forderte - das würde die EU wieder attraktiver und glaubwürdiger im Westbalkan machen.