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Wo sind wir falsch abgebogen?

Von Christian Ortner

Gastkommentare

In der Pandemie wird Wissenschaftsskepsis zur lebensgefährlichen Hypothek.


So unerfreulich das Coronavirus insgesamt ist, für eines muss man ihm regelrecht dankbar sein: Es hat einigermaßen schonungslos eine echte strukturelle Schwachstelle dieses Landes und seiner Bewohner sichtbar gemacht, die dringend der Reparatur harrt, auch wenn Corona irgendwann längst überwunden sein wird: eine besonders ausgeprägte Skepsis nicht nur gegenüber der Covid-Impfung, sondern bis zu einem gewissen Grad auch der Wissenschaft und Technik insgesamt gegenüber. Zu verfestigen scheint sich, was eine Eurobarometer-Umfrage schon 2014 zeigte: "Laut der Umfrage", vermeldete die APA damals, "gehörte die Alpenrepublik zu jenen Ländern, deren Bürgerinnen und Bürger im Europa-Vergleich am seltensten einen positiven Effekt von Wissenschaft und Innovation auf verschiedene gesellschaftliche Fragestellungen sehen."

Das fällt uns jetzt ganz ordentlich auf den Kopf, etwa in Gestalt einer eher überschaubaren Covid-
Impfrate und eines massiven, quer durch alle Bevölkerungsschichten gehenden irrationalen Widerstandes gegen die wissenschaftlich gebotenen und fundierten Methoden der Pandemiebekämpfung, von Masken über Tests bis zur Impfung.

Wo sind wir da eigentlich falsch abgebogen? Ein Teil der Erklärung mag in der Geschichte des Landes liegen. Denn Österreich vertrieb oder vernichtete nach 1938 einen erheblichen Teil jenes - oft jüdischen - Bildungsbürgertums, das gemeinhin die gesellschaftliche Basis aufklärerischen, rationalen Denkens bildet. Nach dem Krieg konnte diese intellektuelle Leere nicht gefüllt werden, davon habe sich Österreich teils bis heute nicht erholt, analysierte jüngst der Ökonom Ulrich Berger von der WU Wien im "Standard".

Gefüllt haben sie zunehmend unwissenschaftliche und irrationale Methoden und vermeintliche Therapien wie Homöopathie, anthroposophische Medizin, Steinheilung, Irisdiagnostik, Kinesiologie, Ayurveda oder die Verwendung von Bachblüten, Schüßler-Salzen und Grander-Wasser - um nur einige zu nennen. (Einen guten Überblick über die traditionelle Schwurblerszene bietet das gerade erschienene Buch "Geschäfte mit dem Nichts - Risiko Scheinmedizin" von Theodor Much und Edmund Berndt.)

Es ist wohl einer an sich sympathischen österreichischen Variante von "Leben und leben lassen" geschuldet, dass die Vertreter von Vernunft und Aufklärung diesem intellektuellen Tumor zu lange zu wenig Beachtung schenkten. Dass zahllose Apotheken heute Globuli verkaufen und auch die Ärztekammer nicht frei von Vertretern der Quack-Fraktion ist, passt leider in dieses Bild - und verleiht der Gegenaufklärung eine Aura von Legitimität.

Einen Booster für die Unvernunft in diesem Kontext stellte der politische Kampf der Grünen gegen Technologien wie die Gentechnik dar; dass in den grün-affinen Ländern Deutschland und Österreich vor allem die neuen mRNA-Impfstoffe auf Skepsis stoßen, überrascht da wenig. Dass heute vor allem rechtsextreme Corona-Skeptiker die Früchte dieser Gegenaufklärung ernten können, ist eine subtile Pointe der Geschichte. Gelingt es nicht, der Aufklärung wieder mehr Gehör und Gewicht zu verschaffen, wird Corona nicht die letzte Krise sein, an der wir weitgehend scheitern.