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Eine Wende drängt sich auf

Von Andreas Kresbach

Gastkommentare
Andreas Kresbach ist Jurist im Öffentlichen Dienst und Generationensprecher des politischen Thinktanks "Die weis(s)e Wirtschaft".
© privat

Die Regierungspartei ÖVP sollte sich unmissverständlich vom "System Kurz" distanzieren.


Mit der Machtübernahme in der ÖVP durch die Landeshauptleute und dem von der niederösterreichischen Landespartei forcierten neuen Kanzler Karl Nehammer sollen wieder Ruhe und Stabilität in Partei und Regierung einziehen. Beides ist ebenso möglich wie nötig. Die strafrechtlichen Ermittlungen und die drohende Anklage gegen Ex-Kanzler Sebastian Kurz wegen Untreue und Bestechlichkeit und die schwere moralische Angegriffenheit des "Systems Kurz" hat die ÖVP in solche Turbulenzen gebracht, dass das Vertrauen in Kurz auch in der eigenen Partei verspielt war.

Da die Ermittlungen noch einige Zeit andauern werden, sollte Kurz’ Rücktritt Druck herausnehmen. Und nein, er wurde nicht gejagt, im Gegenteil: Seine Attacken auf die Justiz aus politischem Eigennutz haben das Vertrauen sehr vieler Bürger in die Politik beschädigt. Das war einzigartig in der Zweiten Republik und wohl zu viel des Guten: Wie schon im Oktober drängten auch jetzt einige ÖVP-Landeschefs auf seinen Rückzug, und zwar wegen der Plausibilität der gravierenden Verdachtsmomente gegen Kurz und sein Umfeld und nicht nur wegen übermütiger interner Chats, wie manche dies herunterspielen wollen - einige Chats, die politische Entscheidungen betreffen, sind übrigens sehr wohl öffentlich relevant.

Der Konflikt mit der Justiz war der beschämende Höhepunkt von vier Jahren türkiser Regierungsführung. Ihre Bilanz ist gar nicht gut. Außer viel Eigen-PR wurde kaum eine Reform angegangen. Kurz war eben nicht das große politische Talent, als das er jetzt so gerne glorifiziert wird. Er überzog Wahlkampfkostenlimits stark, ließ Umfragen mutmaßlich manipulieren, betrieb mit unanständigen Methoden eine beispiellose Boulevardisierung der Politik zum Nutzen des eigenen Machtklüngels und fragwürdige Postenbesetzungen bis hinauf zum ÖBAG-Vorstand, akzeptierte einen Rechtsausleger als Innenminister . . .; das Thema Gesetzeskauf ist Gegenstand auch des nächsten U-Ausschusses. Türkis-Blau war ausschließlich von Ressentiments gegen sozial schwache Gruppen getragen und scheiterte mit dem Ibiza-Video schon nach 18 Monaten krachend - zum Glück, denn man will sich lieber nicht vorstellen, wie FPÖ-Minister mit der Corona-Krise umgegangen wären.

Mit weitgehend unbelastetem Personal auf ÖVP-Seite kann die Regierung jetzt noch einige Zeit weiterarbeiten. Doch solange sich die ÖVP nicht unmissverständlich vom "System Kurz" distanziert, liegt ein Schatten über ihr und hat die Koalition mit den Grünen ein baldiges Ablaufdatum; diese war von Anfang an eine sehr unausgeglichene, "das Beste zweier Welten" nichts als schöne Worte. Nach der ohnehin nur halbherzigen ökosozialen Steuerreform ist der Vorrat an Gemeinsamkeiten bald aufgebraucht.

Ein Neustart mit der SPÖ?

Das Land braucht eine grundlegende politische Wende und einen moralischen Neustart. Dieser kann glaubwürdig nur von seriösen Politikern getragen werden, die nicht nur das Wohl der eigenen Klientel im Auge haben oder auf eine Propaganda-Maschinerie setzen, sondern den dringenden Herausforderungen mit Sachverstand begegnen und wieder den sozialen Frieden ernst nehmen. Denn die Krise ist vor allem auch eine des Vertrauens in die Politik. Nach der Corona-Misere und den vielfältigen sozialen Verwerfungen muss ein Ruck des Zusammenhalts durchs Land gehen, und beim Megathema Klimawandel, das dann endlich ganz oben auf die Agenda kommen sollte, gilt es, engagiert und mutig Chancen für einen grün eingefärbten Wirtschaftsaufschwung zu eröffnen.

Für einen umfassenden Neustart sollte sich eine sozial-liberal und ökologisch ausgerichtete Zukunftsregierung anbieten, wofür eine doppelte Wende möglich scheint: Macht die ÖVP so weiter wie bisher, ebnet sie den Weg für eine Dreierkoalition aus SPÖ, Grünen und Neos; eine solche herausfordernde, aber spannende Option könnte freilich auch eine von der türkisen Machttechnokratie geläuterte und runderneuerte ÖVP ergreifen. Mit den erstarkten Landeshauptleuten könnte aber auch ein Weg in Richtung große Koalition eingeschlagen worden sein.

Die Art und Weise, wie es zur Entscheidung über den jüngsten Lockdown kam, hat bereits in diese Richtung gezeigt. Da verständigten sich im Vorfeld rote und schwarze Landeshauptleute auf eine konsequente Vorgehensweise, der sich die intern uneinige Bundesregierung und der Kanzler auf Kurz-Linie nicht mehr verschließen konnten. Die monatelangen Versäumnisse, rechtzeitig die notwendigen Beschränkungen zu verordnen, ließen keine andere Wahl mehr zu.

Für ein Revival von ÖVP und SPÖ, das dem verbreiteten Wunsch nach unaufgeregter Professionalität geschuldet wäre, fehlt jedoch noch beiderseits der Wille, und es wäre auch nichts Neues. In jedem Fall braucht das durch die ÖVP-Turbulenzen und die Pandemie durcheinandergewirbelte Land eine entschlossene, zukunftsorientierte Politik, die glaubwürdig nur von einem kompetenten und sympathischen Personal vermittelt werden kann. Politikern muss man auch ansehen, dass sie die Menschen mögen.