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Die späten Folgen des Kriegsrechts in Polen

Von Otmar Lahodynsky

Gastkommentare

Die mangelhafte Aufarbeitung der Geschehnisse vom Dezember 1981 belastet bis heute Polens Verhältnis zur EU.


Polen beging den 40. Jahrestag der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember wie bereits gewohnt in getrennten Lagern. In einer TV-Ansprache forderte Staatspräsident Andrzej Duda seine Landsleute auf, Kerzen in die Fenster zu stellen, zur Erinnerung an die Opfer der Militäraktion, mit der die Solidarnosc-Bewegung, der damals ein Drittel der polnischen Bevölkerung angehörte, über Nacht verboten und für Jahre ausgelöscht oder in den Untergrund getrieben worden war. Duda dankte den "Helden" der Solidarnosc, denen die Befreiung Polens vom Kommunismus und die Rückgewinnung der staatlichen Souveränität zu verdanken sei.

Doch die Polarisierung der polnischen Gesellschaft in zwei konträre Lager - die aktuelle rechtsautoritäre Regierung der Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) und das oppositionelle liberale Bürgerforum (PO) - nimmt mit jedem Jahr weiter zu. Das zeigte auch eine Podiumsdebatte mit Zeitzeugen und Experten im Wiener Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) am Montagabend (Video dazu: www.facebook.com/PANinWien).

Die mangelhafte Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit Polens sei für viele aktuellen Probleme im Land und im Verhältnis zu den europäischen Partnern und EU-Institutionen verantwortlich, meinte Pawel Kuglarz, polnischer Jurist, der auch PiS-Mitbegründer war, aber 2006 wegen der Regierungsbeteiligung der rechtsextremen Partei Samoobrona (Selbstverteidigung) alle politischen Funktionen aufgab.

Im polnischen Justizwesen unterblieb nach 1989 jegliche Lustration, also blieben fast alle Richter und Staatsanwälte des KP-Regimes nach der Wende im Amt. Als in den späten 1990ern eine zaghafte Säuberung im öffentlichen Dienst eingeleitet wurde, fanden sich nicht einmal zehn Richter, die daran mitwirken wollten. Damit wurde eine "ehrliche Abrechnung" versäumt, und Leute blieben im Amt, die in der kommunistischen Zeit auch Solidarnosc-Aktivisten zu langen Haftstrafen verurteilt hatten. Erst vergangenes Wochenende forderte der frühere Solidarnosc-Vizepräsident und Widersacher von Lech Walesa, Andrzej Gwiazda, eine Haftentschädigung von umgerechnet mehr als 400.000 Euro.

Keine Restitutionen mehr

Auch die Rückgabe der nach 1945 enteigneten Immobilien oder Firmen erfolgte nur in Ansätzen. Als im Jahr 2000 eine bürgerliche Regierung ein Reprivatisierungsgesetz verabschiedete, legte Präsident Alexander Kwasniewski, ein Ex-Kommunist, sein Veto ein. Als die rechtsautoritäre PiS-Regierung in den vergangenen Jahren frühere KP-Richter und Staatsanwälte abberief oder versetzte, hätten dies EU-Politiker als unzulässigen Eingriff in die unabhängige Justiz gesehen, so Kuglarz. Aber angesichts des fortgeschrittenen Alters dieser Gruppe kann dies keine Erklärung für die massiven Eingriffe der Regierung in die Unabhängigkeit der Justiz sein.

Ich habe als Podiumsteilnehmer darauf hingewiesen, dass die jetzige Regierung unter Mateusz Morawiecki erst heuer im Sommer einen Schlussstrich bei der Restitution gezogen hat. Restitutionsentscheide von Behörden können nach Ablauf von 30 Jahren nicht mehr angefochten werden, was vor allem in Israel mit Blick auf Holocaust-Opfer und deren Erben für große Empörung sorgt.

Erhard Busek, Ex-Vizekanzler und Chef des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM), zeigte sich über den mangelnden Dialog zwischen den EU-Institutionen und der polnischen Regierung enttäuscht: Brüssel zeige "zu oft mit dem Zeigefinger" auf die neuen Mitgliedsländer. "Wir sind heute weiter von Polen und Ungarn entfernt als zur Zeit, als sie noch nicht EU-Mitglieder waren", so Busek. Das mangelnde Interesse auch in Österreich an Vorgängen in den neuen EU-Ländern "macht mich traurig".

Emil Brix, Chef der Diplomatischen Akademie und Österreichs erster Generalkonsul in Krakau nach der Wende, bedauerte ebenfalls, dass in der EU kaum noch Debatten über wichtige interne Probleme geführt würden. Auch in Österreich lebten Stereotypen über die früheren Länder hinter dem Eisernen Vorhang fort. Bis heute nicht geklärt ist die Frage, ob Polens damaliger Machthaber General Wojciech Jaruzelski als Premier und KP-Chef vom Kreml zur Verhängung des Kriegsrechts - das er bis zu seinem Tod 2014 als "kleineres Übel" bezeichnet hat - gedrängt wurde. In den Archiven sind keine klaren Beweise für eine geplante Invasion zu finden. Vermutlich reichte schon deren Androhung.

Ich selbst erlebte als einziger Journalist aus Österreich in Warschau im Dezember 1981 die Verhängung des Kriegsrechts. Es war wohl das letzte Mal, dass ein ganzes Land in Europa komplett von der Außenwelt abgeschnitten wurde: Telefon oder Telex funktionierte nicht mehr. Kein Ausländer durfte mehr einreisen. Meine Berichte und Fotos schmuggelte ich durch die Militärzensur nach Wien. Eines meiner Dias schaffte es sogar auf die Titelseiten von internationalen Magazinen wie "Time Magazin", "Paris Match" oder "Espresso" (siehe Bild).

Polen in der Sackgasse

Heute sorge ich mich um die Zukunft Polens in der EU. Zwar lehnen 90 Prozent der Polen einen EU-Austritt ab. Aber wenn ein polnischer Abgeordneter einer kleinen Regierungspartei heute ernsthaft damit droht, die EU zu verlassen, sobald Polen keine Nettoempfänger von EU-Förderungen mehr sei, wird die EU mit einem Bankomat verwechselt. Und die jüngste Entscheidung des Verfassungsgerichts, Teile der EU-Verträge würden nicht mehr für Polen gelten, ist brandgefährlich. Die jetzige Regierung hat sich in eine Sackgasse manövriert und verletzt Grundwerte der EU wie Unabhängigkeit der Justiz, Frauenrechte, Gleichstellung der LGTBQ+-Gemeinschaft und Medienfreiheit. Das kann die EU nicht tatenlos hinnehmen.

Und mit einem Treffen rechtsautoritärer, EU-feindlicher Parteien Europas vorige Woche in Warschau, von Rassemblement National über AfD bis FPÖ, hat Polen neuerlich provoziert. Was will die PiS-Regierung? Eine neue europäische Komintern der rechtsradikalen EU-Gegner, wie der ehemalige Solidarnosc-Funktionär Adam Michnik spöttisch anmerkte? Dafür haben die Arbeiter der Lenin-Werft in Danzig vor 41 Jahren ganz sicher nicht gestreikt.

Das Video zur Podiumsdiskussion "40 Jahre danach-die Verhängung des Kriegsrechts in Polen und die Folgen für die Gegenwart" kann hier nachgesehen werden.