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Europa hat ein Strommarktproblem

Von Lukas Stühlinger

Gastkommentare

Angesichts der Explosion der Strompreise auch in Österreich muss die Regierung jetzt handeln.


Die Verwerfungen am europäischen Strommarkt werden für die österreichischen Privatkunden und Betriebe in den nächsten Monaten Mehrkosten in Milliardenhöhe verursachen. Diese entstehen größtenteils nicht durch steigende Erzeugungspreise, sondern durch ein Problem in der Regulierung des europäischen Strommarkts, jetzt raschestmöglich korrigiert werden muss.

Mit der Liberalisierung des europäischen Strommarkts im Jahr 1996 wurde der Grundstein für einen modernen und transparenten Energiemarkt und den Ausbau der erneuerbaren Energien gelegt. Der freie Marktzugang ermöglichte es innovativen Bürgergesellschaften, den Bau von Wind- und Solarenergieprojekten voranzutreiben, und gab ihnen die Sicherheit, dass diese auch den Zugang zum allgemeinen Stromnetz erhielten. Mit der regulatorischen Trennung von Erzeugung, Netzen und Vertrieb wurde erstmals ein transparenter Wettbewerb um die besten Ideen und die günstigste Erzeugung ermöglicht. Mit anderen Worten: Die Liberalisierung des europäischen Strommarkts ist eine Erfolgsgeschichte für die Kunden und die gesamte Energiebranche.

Der europäische Strommarkt steht nun aber vor seiner größten Prüfung seit seiner Entstehung. Die Strompreise auf den Großhandelsmärkten sind in den vergangenen Monaten dramatisch angestiegen, der Monatsfuture für den Jänner 2022 liegt jetzt bei rund 45 Cent pro Kilowattstunde und ist damit fast um das Zehnfache höher als in den Vorjahren. Die daraus in den nächsten Monaten entstehenden Mehrkosten für die österreichischen Verbraucher und Betriebe gehen in die Milliarden. Die Folgen für Österreichs Wirtschaft sind unabsehbar, vor allem wenn die Situation länger anhält.

Das teuerste Kraftwerk bestimmt den Strompreis

Doch wie konnte es so weit kommen? Die scheinbar logische Erklärung für die drastisch gestiegenen Strompreise liegt in den hohen Gaspreisen für den kommenden Winter, die einerseits eine Folge des Gasstreits zwischen der EU und Russland und andererseits der komplexen Verschiebungen in den internationalen Gaslieferbeziehungen sind. Das ist aber nur ein kleiner Teil der Erklärung, weil die Gaskraftwerke beispielsweise in Deutschland nur rund 16 Prozent der gesamten Stromproduktion ausmachen.

Der Hauptgrund für die aktuelle Marktverwerfung liegt vielmehr im Preisbildungsmechanismus des europäischen Strommarktmodells, der sogenannten Merit-Order, die die Einsatzreihenfolge der Kraftwerke nach deren Erzeugungsgrenzkosten festlegt. Die Logik der Merit-Order sieht vor, dass das letzte (und somit teuerste) Kraftwerk, das in einer Viertelstunde noch zur Bedienung des Strombedarfs benötigt wird, den Strompreis in dieser Viertelstunde bestimmt. Somit erhalten alle Kraftwerke, unabhängig von ihren tatsächlichen Erzeugungskosten, in dieser Viertelstunde denselben Preis.

Da im Winterhalbjahr häufig Gaskraftwerke den Strompreis festlegen, deren Betrieb aufgrund der hohen Gaskosten derzeit besonders teuer sind, ist der Strompreis mit dem Gaspreis mitgestiegen. De facto führt dies dazu, dass beispielsweise ein Kraftwerk, das mit Grenzkosten von 3 Cent pro Kilowattstunde betrieben wird, im Jänner 2022 eine Reinmarge von 42 Cent pro Kilowattstunde erhalten wird. Diese zahlt der Verbraucher, ohne dass dabei irgendeine Wertschöpfung entstanden wäre. Das kann nicht das Ziel eines transparenten und effizienten europäischen Strommarkts sein.

Temporäre Änderung des Preisbildungsmechanismus

Was ist nun zu tun? Der einzige Weg, um die Situation zu beheben, ist eine temporäre Änderung des Preisbildungsmechanismus in Bezug auf Gaskraftwerke. Konkret müssten die Gaskraftwerke aus der Merit-Order herausgelöst und auf Basis ihrer Grenzkosten so lange preisreguliert werden, bis sich die Situation auf den Gasmärkten entspannt hat. Die Kosten für die österreichischen Verbraucher könnten damit massiv gesenkt werden. Die spanische Regierung hat daher bereits Ende Oktober einen Brief nach Brüssel geschickt und die EU Kommission aufgefordert, die Preisbildung am Großhandelsmarkt für Strom zu reformieren. Das Vorhaben wurde von Frankreich unterstützt, aber von einer Gruppe nordeuropäischer Länder, darunter Österreich, mit der Begründung abgelehnt, dass Adhoc-Reformen des Großhandelsmarktes nicht zielführend seien.

Nachdem sich die Situation auf den Strommärkten nun seit Oktober aber weiter zugespitzt hat und langfristigen Schaden für österreichische Verbraucher und Betriebe anzurichten droht, sollte die heimische Bundesregierung dringend aktiv werden und in Brüssel eigene Vorschläge zur temporären Anpassung der Preisbildungsmechanismen am europäischen Strommarkt vorlegen.