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Der Denker des "Richterstaats"

Von Manfried Welan

Gastkommentare

Zum 50. Todestag: Erinnerungen an René Marcic (1919 bis 1971).


Gedenktafel für René Marcic auf dem Friedhof Aigen.
© Salzburgwiki / Andrea Loidl

Vor 50 Jahren starb mein Freund, Förderer und Lehrer René Marcic. Ich lernte ihn gegen Ende meines Studiums in seiner Vorlesung "Ideen- und Institutionengeschichte des demokratischen Rechtsstaates" kennen. Er hatte sich hier 1959 für Rechtsphilosophie und Allgemeine Staatslehre mit seinem Opus magum "Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat" habilitiert. Diese Abendvorlesung besuchten nur wenige, doch Marcic sprach, als stünde er vor vielen. Er war ein großartiger Rhetoriker und verstand es, die abendländische Rechts- und Staatsphilosophie bis in die neueste Zeit wiederzugeben, auch in griechischer und lateinischer Sprache.

Marcic war gleichzeitig Chefredakteur der "Salzburger Nachrichten" und ein kommunikativer Lehrer. Er war universell gebildet und in Philosophie und Literatur so bewandert wie kaum ein anderer Professor. Ich konnte ihn mit meinen jugendlichen Ideen zu Oswald Spengler, Arnold Toynbee, Wladimir Solowjew, Pitirim Sorokin, Hans Sedlmayr und José Ortega y Gasset ansprechen. Regelmäßig lud er mich ins Hotel Regina ein, wo das Gespräch beim Nachtmahl weiterging. Auf dem Weg zum Westbahnhof - er ging fast immer zu Fuß - plauderten wir weiter über Augustinus und Thomas von Aquin, Alfred Polgar und Egon Friedell, Karl Marx und Otto Bauer, Karl Kraus und Peter Altenberg, Carlo Schmid und Carl Schmitt, Ernst Jünger, Thomas und Heinrich Mann. Manchmal las man einen oder zwei Tage später den Inhalt solcher Gespräche als Leitartikel.

"Seinsgerichtete Rechtslehre"

© Festschrift zum Anlass des 10-jährigen Bestehens der Österreichisch-Kroatischen Gesellschaft

Marcic war der einzige "Seinsrechtslehrer", den ich persönlich kennenlernte. Er lehrte uns seine "seinsgerichtete Rechtslehre": Der Mensch kann den normativen Ausfluss der Seinsordnung erkennen. Aus dem Sein leiten sich mit Evidenz Menschenwürde und Menschenrecht ab. Demokratie und Menschenrechte waren für ihn an der Wurzel eins. Sein Stil war manchmal blumig, sein Pathos burgtheaterreif. "Jede Zeit hat ihre Hühneraugen!", rief er einmal, und ich setzte laut fort: ". . . und ihr Hühneraugenpflaster!" Ein Schuss Johann Nestroy vertrug sich gut mit diesem Geist.

Manfried Welan ist seit mehr als 50 Jahren Verfassungspolitologe. Er war unter anderem in Wien ÖVP-Stadtrat und Dritter Landtagspräsident sowie langjähriger Rektor der Boku.
© c.gruber@boku / Christoph Gruber

Dem modernen Staat stellte Marcic die Diagnose, dass er durch die Masse und Mängel seiner Vorschriften im Zuge seiner wachsenden Aufgaben "vom Gesetzesstaat zum Richterstaat" werde; so der Titel seines 1957 erschienen Opus magnum, das sein bekanntestes Werk, ja zum Schlagwort wurde. Die Entwicklung, auch die internationale und supranationale, bestätigte seine Diagnose: Die Konkretisierung des generellen Rechts durch Behörden, Ämter und Private, vor allem Unternehmen, wird immer politischer und wichtiger. Die Gesetzgebung wird entpolitisiert, die Vollziehung politisiert.

Richter immer mehr unter Druck

Erwin Bader / Paul R. Tarmann (Hrsg.): "Um Mensch und Recht" - das heuer in der Edition Widerhall erschienene Buch setzt sich mit dem Denken des Humanisten, Rechtsdenkers und Publi - zisten René Marcic auseinander.

Unter "Richterstaat" verstand Marcic auch das Baugesetz einer Verfassung, wonach am Ende eines jeden Rechtserzeugungsprozesses der unabhängige Richter das letzte Wort hat. Mit dieser Unabhängigkeit steht und fällt unsere Freiheit. Aber die Richter geraten immer mehr unter Druck, wenn sie anstelle der Politik entscheiden müssen. Dass jeder Richter "politisch" tätig ist, ergibt sich ja schon aus der Struktur des Rechts, das nur wenig wirklich vorherbestimmen kann. Im Übrigen entsteht immer mehr Recht ohne Staat durch globale Rechtspersonen und Verträge.

Marcic war ein Konservativer und gleichzeitig ein radikaler Demokrat, der für Demokratiereform und Demokratisierung, für Teilhabe und Teilnahme aller an der Rechtserzeugung eintrat. Es geht aber auch immer mehr um anderes, vor allem um Information und Kommunikation. Demokratie war für ihn der "Baustil des Wandels". Er predigte den Imperativ: "Du sollst über deinen Nächsten nicht herrschen!" Ebenso wie der ehemalige Verfassungsgerichtshofspräsident Walter Antoniollo (1907 bis 2006) ermunterte er mich, in einer Partei mitzuarbeiten: "Die Parteiendemokratie braucht Sie!" Er verteidigte die Koalitionsdemokratie, in der er die Überwindung der Vergangenheit und den österreichischen Weg für die Gegenwartsdemokratie, ja für den Weltfrieden sah. Das war im Kalten Krieg durchaus aktuell. Heute ist das globale Gespräch ein Weg, der "plurale Polylog".

Universitäten als "fünfte Gewalt"

Marcic sprach mich als "Publizisten" an. Er meinte damit nicht den "Publizisten" als Vertreter des Öffentlichen Rechts im Gegensatz zum "Zivilisten", dem Vertreter des Privatrechts, sondern einen besonders gebildeten und qualifizierten Journalisten, wie er es selbst war. Für ihn waren die Medien die "vierte Gewalt", und die hohe Verantwortung der Journalisten für die öffentliche Meinung und Öffentlichkeit ergab sich nicht zuletzt aus dieser Funktion und Partizipation in der "res publica". Die Universitäten hatten für Marcic das Zeug zur "fünfte Gewalt". Bis heute sind sie es nicht geworden. In der von ihm intendierten Form sind sie bis heute nicht in der Republik angekommen.