Zum Hauptinhalt springen

Die USA sind nicht für alles verantwortlich

Von Teresa Eder

Gastkommentare
Teresa Eder ist Referentin und Koordinatorin des Global Europe Program am Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington. Zuvor war sie jahrelang als Journalistin und TV-Producerin tätig, unter anderem für ZDF, ARD und die Tageszeitung "Der Standard". Der Fokus ihrer Arbeit liegt auf dem transatlantischen Verhältnis, sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten sowie extremistischen Bewegungen.
© www.wilsoncenter.org

Nüchtern und trotzdem ambitioniert: ein Upgrade der transatlantischen Beziehungen.


Nach der Angelobung von US-Präsident Joe Biden am 21. Jänner 2021 war die überschwängliche Erleichterung nicht nur in den demokratischen Hochburgen der USA zu spüren, sondern auch ganz deutlich von der europäischen Seite des Atlantiks aus zu vernehmen. Doch von der ursprünglichen Aufbruchsstimmung, die man sich vor allem in den USA von Europa erwartet hätte, ist nicht viel übrig. Im Gegenteil: Spannungen zwischen Brüssel und Washington wurden schon im ersten halben Jahr sichtbar. Etwa in der Frage, was die neue Pipeline Nord Stream 2 und die damit wachsende Energieabhängigkeit von Russland für die transatlantischen Beziehungen bedeuten. Das Investitionsabkommen zwischen China und der EU liegt zwar derzeit auf Eis, die Einigung darauf, nur wenige Tage vor dem Amtsantritt der Biden-Regierung, warf trotzdem kein gutes Licht auf die Prioritäten Europas.

Umgekehrt lässt Präsident Bidens Motto "Buy American", das auch schon während Donald Trumps Amtszeit regelmäßig in Verwendung war, die EU daran zweifeln, dass die Zeiten des wirtschaftlichen Isolationismus vorbei sind. Die immer noch eingehobenen Strafzölle auf Stahl und Aluminium, die im März 2018 in Kraft getreten sind, sind Beweis dafür, dass Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und Europa noch lange nicht gelöst sind. Friktionen wie diese sind zwar nicht neu, aber gerade jetzt hinderlich für eine Revitalisierung und ein Upgrade der transatlantischen Beziehungen. Sie haben ihren Ursprung auch in der europäischen Auffassung, es liege ausschließlich in der Hand der USA, die gestörte transatlantische Beziehung zu kitten, frei nach dem Motto: "You break it, you fix it."

Eine grundsätzliche Frage schwebt für die Europäer über allem: Was, wenn in vier Jahren wieder ein autoritärer Populist à la Trump ins Weiße Haus gewählt wird? Würde das einen unwiederbringlichen Bruch der europäisch-amerikanischen Allianz provozieren? Diese Sorge ist berechtigt, wird von der demokratischen US-Regierung derzeit aber gerne übergangen. Gleichzeitig scheinen das Misstrauen und der hartnäckige Zweifel an einer stabilen Zukunft der transatlantischen Beziehungen ein Grund für Regierungsvertreter in europäischen Hauptstädten zu sein, sich zurückzulehnen und abzuwarten, was die USA denn zu bieten haben.

Drei unterschiedliche Blickwinkel

Daraus ergibt sich eine lähmende, passive Haltung, die Europa langfristig nur schaden kann. Für Europa und die EU im Besonderen wäre es strategisch wichtig, sich die langfristigen hypothetischen Szenarien und die Auswirkungen eines polarisierten US-Wahlsystems vor Augen zu halten. Konkret geht es darum, die transatlantische Politik aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und einzuordnen, um daraus eine proaktive transatlantische Agenda entwickeln zu können.

Folgende Fragen können dafür anleitend sein: Bei welchen Themen gibt es weitgehenden Konsens zwischen der EU und den USA unabhängig davon, wer im Weißen Haus sitzt? In welchen politischen Fragen können in den nächsten vier Jahren gemeinsam Lösungen vorangetrieben werden, die mit dem nächsten US-Präsidenten nicht sofort rückgängig gemacht werden könnten? Und in welchen Bereichen muss die EU künftig ihren eigenen Weg gehen und ihre eigene Stimme finden?

Eine parteiübergreifende Unterstützung ist in den USA derzeit nur noch bei der wichtigsten sicherheitspolitischen Allianz vorhanden: der Nato. Selbst dort hat aber die Amtszeit von Präsident Trump Risse hinterlassen. Mehrmals wurde befürchtet, dass die USA aus dem Bündnis austreten könnten. Die Debatte über das 2-Prozent-Ziel der Verteidigungsausgaben schwelt auch mit Präsident Biden weiter. Trotzdem standen sowohl Republikaner als auch Demokraten im Kongress bisher immer zu 100 Prozent hinter der Nato. Aus europäischer Sicht würde die Akzeptanz in der Bevölkerung auch steigen, wenn die Aufgaben des Bündnisses weitergedacht würden - zum Beispiel im Bereich Klimasicherheit, Cybersicherheit oder Gesundheitssicherheit.

Um einem politischen Backlash bei der nächsten US-Wahl vorzubeugen, braucht es gerade jetzt eine ambitionierte Umsetzung bei Themen, die vor allem in den USA lange ignoriert wurden und über eine reine Sicherheitspolitik hinausgehen. Dazu zählen eine eingehende Auseinandersetzung mit den drohenden Konsequenzen durch den Klimawandel und eine wirtschaftliche Umorientierung hin zu erneuerbaren Energien - ein Gebiet, auf dem Europa als Vorreiter und Best-Practice-Beispiel aktiv mitgestalten und Einfluss ausüben kann. Eine großangelegte Initiative wie ein "Transatlantic Green Deal" kann helfen, weite Teile der amerikanischen und europäischen Gesellschaft einzubinden und gleichzeitig Maßnahmen zu implementieren, die auch andere Nationen zum Umdenken bewegen.

Buy-in von Wirtschaft und Industrie in die Green Economy

Damit ein solches Projekt an Langlebigkeit gewinnt, wäre es wichtig, die Umsetzung durch die Privatwirtschaft in den Mittelpunkt zu rücken. Das Buy-in von Wirtschaft und Industrie in die Green Economy durch gezielte staatliche Subventionen und Steuererleichterungen würde beispielsweise eine radikale politische Gesamtumkehr nach vier Jahren Biden verlangsamen, denn selbst autoritäre Populisten lassen sich von marktwirtschaftlichen Kräften überzeugen. Eine längst überfällige Mindestbesteuerung von multinationalen Konzernen und eine CO2-Steuer würden die Finanzierung solcher Projekte ankurbeln. Zusätzlich kann eine Stärkung der amerikanisch-europäischen Städtepartnerschaften gewinnbringend sein, denn schon jetzt sind Ballungszentren oftmals der Motor für ökologische Nachhaltigkeit.

In einigen Bereichen wie etwa der unmittelbaren Nachbarschaftspolitik kann sich Europa künftig nicht mehr so stark auf die USA verlassen. Dieses Vakuum sollten EU-Akteure dazu nutzen, ihr außenpolitisches Profil zu schärfen und eine holistischere Vision zu entwickeln, die sicherheitspolitische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und umwelttechnische Probleme gemeinsam denkt. Damit wären auch Fragen, wie man etwa beide Bevölkerungen bestmöglich vor Cyberangriffen auf die Infrastruktur und vor menschengemachten Klimakatastrophen schützen oder den sozialen Zusammenhalt trotz der Flut an Falschinformationen stärken kann, im Mittelpunkt der transatlantischen Debatten angekommen - nicht nur ein Status-Update zu regelmäßigen Nato-Militärübungen.

Vertrauen in demokratische Institutionen wiederherstellen

Letztlich ist es die Herkules-Aufgabe für die USA und Europa, das verloren gegangene Vertrauen in die Institutionen unserer Demokratien wiederherzustellen. Das kann nicht über Nacht passieren und darf sich nicht auf ausgefeilte strategische Konzepte beschränken. Wer die junge Generation oder gesellschaftliche Minderheiten in den transatlantischen (Verhandlungs-)Prozess miteinbeziehen will, kann sich nicht nur auf die freiwillige Mitarbeit dieser Gruppen stützen, sondern muss auch die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung stellen.

Wenn für unsere Gesellschaften spür- und sichtbar ist, dass grenzübergreifende Probleme im Bereich Klima, Technologie, Gesundheit und Migration sich nur gemeinsam lösen lassen, wird das transatlantische Verhältnis nicht mehr nur als vernachlässigbares Relikt der Nachkriegsära verstanden werden. Durch langfristige Investitionen, einen nüchternen Dialog auf Augenhöhe und eine Bereitschaft, voneinander zu lernen, können diese essenziellen Beziehungen wieder mit Leben gefüllt werden. Alles andere wäre grob fahrlässig.

Die "Konferenz zur Zukunft Europas" soll die Weichen für die weitere Entwicklung der EU stellen und einen nachhaltigen Reformprozess einleiten. Die Herausforderungen sind groß: Nach dem Brexit muss die EU die Corona-Pandemie samt gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen bewältigen, sich der Klimaherausforderung stellen und ihre Stellung in der Welt behaupten. In Zeiten globaler Umbrüche und Angriffe auf das liberale Demokratiemodell muss sie zu ihren Werten und Grundsätzen stehen und die Demokratie auf europäischer Ebene weiterentwickeln, um ihre Bürger noch stärker und direkter in die Gestaltung der europäischen Integration miteinzubeziehen. In einer Sonderserie zur EU-Zukunftsdebatte veröffentlicht die "Wiener Zeitung" in unregelmäßiger Folge Beiträge namhafter Fachleute und Meinungsbildner. Die einzelnen Texte wurden dem Buch "30 Ideen für Europa" entnommen, das die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) im Herbst 2021 im Czernin-Verlag herausgegeben hat.