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Das Zeitalter der Resilienz

Von Christian Schuldt

Gastkommentare
Christian Schuldt ist Soziologe und beleuchtet für das Zukunftsinstitut in Hamburg den Kultur- und Medienwandel der vernetzten Gesellschaft. Als Experte für Systemtheorie ist sein Blick geschult für die kommunikativen Muster der real-digitalen Welt.
© privat

In einer global vernetzten Welt erlangt die Fähigkeit, adaptiv auf Krisen zu reagieren, eine neue Relevanz: Die 2020er Jahre werden zur Dekade der Resilienz.


Klimawandel und Corona, Finanz- und Flüchtlingskrisen, Terror und wachsende soziale Ungleichheit: In einer ökologisch verletzten und global vernetzten Welt wird der Modus der Krise zum festen Bestandteil einer neuen Normalität. Die Lebensrealität im 21. Jahrhundert ist komplexer, dynamisierter und unvorhersehbarer als je zuvor - und erzeugt vielschichtigere Problemlagen, neue Dimensionen menschengemachter Selbstgefährdung. Die "Risikogesellschaft", die der Soziologe Ulrich Beck bereits vor 35 Jahren beschrieb, hat eine neue, global vernetzte Ebene erreicht.

Die Corona-Krise hat uns drastisch vor Augen geführt, wie globale Pfadabhängigkeiten unser gewohntes Leben plötzlich aus den Fugen werfen können. Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer bezeichnet sie als "Lehrstück, um Leben mit der Ungewissheit zu üben". Die kollektive Erfahrung der Verwundbarkeit hat klargemacht: Jetzt ist die Zeit gekommen für den Ausbau systemischer Schutzfaktoren. Zugleich gilt es dabei Sicherheit völlig neu zu verstehen: als dynamischen, kontinuierlichen Prozess, als eine Variable, die ständig neu ausgehandelt und aufgebaut werden muss. Und vor allem: als Fähigkeit, gut mit Unsicherheit umgehen zu können.

Die großen Zukunftsfragen lauten dementsprechend: Wie können sich individuelle und soziale Systeme gegen Unvorhergesehenes wappnen? Was stärkt gesellschaftlichen Zusammenhalt in Krisenzeiten? Und wie sieht ein produktiver Umgang mit Krisen aus, die nicht prognostiziert werden können (oder noch nicht einmal gedacht sind)? Die Antworten finden sich im konsequenten Umschalten auf Komplexität und Adaption: auf eine zukunftsfähige Form von Resilienz.

Bereits seit den 1970er Jahren hat der Resilienzdiskurs ein stabiliätsorientiertes Verständnis etabliert, das Resilienz vor allem als Sicherheit und Funktionsfähigkeit definiert (Resilienz 1.0). Erst in jüngerer Zeit an Bedeutung gewonnen hat eine evolutionäre Perspektive, die Resilienz als kontinuierliche Anpassung an veränderte Umweltbedingungen betrachtet (Resilienz 2.0). Dieser Zugang gewinnt in einer hypervernetzten Welt stark an Bedeutung. Zugleich ergänzen und bedingen einander beide Ansätze wechselseitig: Ohne Flexibilität fallen Veränderung und Anpassung schwer, ohne feste Verwurzelung bleibt Beweglichkeit ein richtungsloses Mitschwimmen im Strom. Voraussetzung für Resilienz ist also ein vitales Verhältnis von Robustheit und Adaptivität, von Tradition und Innovation.

Eng verknüpft damit ist ein ganzheitliches Verständnis systemischer Vernetzungsstrukturen, das Zentralität und Dezentralität vereint: Die Vernetzung eines resilienten Systems ist weder über- noch unterkomplex, sondern nutzt Knotenpunkte, um ein Gleichgewicht zwischen Stabilität und Variabilität zu schaffen. Das beste Beispiel dafür ist das menschliche Gehirn, dessen 100 Billionen Synapsen über Knotenpunkte verschaltet sind, um ein agiles Zusammenspiel von Struktur und Diversität zu ermöglichen.

Das neue Resilienzparadigma markiert einen historischen Bruch mit dem modernen Optimismus der Systemkontrolle. Die über lange Zeit etablierte Vorstellung der festen Einplanbarkeit von Unwägbarkeiten wird gleichsam auf den Kopf gestellt: Resiliente Systeme sind gerade deshalb zukunftssicher, weil sie im mechanischen Sinne "unsicher" sind - denn sie sind in der Lage, ihre inneren Strukturen variabel wiederherzustellen. Zur zentralen Voraussetzung für die Schaffung von Zukunftssicherheit wird deshalb die Kultivierung einer grundsätzlichen Unsicherheitskompetenz: Das Sicherheitsmanagement von morgen surft auf den Wellen der Unsicherheit. Wie und wo manifestiert sich die Entwicklung in Richtung des neuen Resilienzparadigmas bereits? Ein Blick auf die vier großen Resilienzsphären Planet, Mensch, Gesellschaft und Wirtschaft:

Planet: Ökosysteme stärken

Grüne Technologien zur Verlangsamung des Klimawandels reichen von künstlichen Bäumen, die mithilfe von Mikroalgen CO2 in Sauerstoff verwandeln, bis zu Recyclingverfahren, bei denen Würmer und Enzyme Kunststoff zersetzen. Besonders nachhaltig sind Initiativen zur Aktivierung der ökosystemischen Selbstheilungskräfte, zum Beispiel durch grüne Mauern - breite Landschaftsstreifen mit Baumpflanzungen, die die Ausbreitung von Wüsten eindämmen und Landstriche revitalisieren. Auch schonende Formen der Landwirtschaft wie wiedervernässte Moore fördern die ökosystemische Regeneration.

Resiliente Städte zeigen, wie sich auch urbane Regionen an die Folgen des Klimawandels anpassen können, etwa durch ein Wärmemanagement mithilfe von Grünzonen, Frischluftkorridoren und Wasserflächen sowie begrünten oder weißen Dächern. Dass auch kleinere Initiativen große Wirkung entfalten können, verdeutlicht das breite Spektrum sozialer Innovationen - von Energiedörfern, die eigenen Strom produzieren, bis zu Bürgerinitiativen, die geteilte Mobilität vorantreiben.

Mensch: Achtsamkeit und Resonanz

Von Postwachstum und New Work bis zu Body Positivity und der aufstrebenden Neo-Spiritualität werfen verschiedene achtsame Lösungskonzepte die alte Frage nach dem guten Leben neu auf. Dabei wird auch klar: Einzelkämpfende sind nie besonders resilient, es ist immer auch das soziale Netz, das Menschen in Krisenzeiten auffängt oder gar nicht erst in eine Krise fallen lässt. Elementar sind dabei "Wir"-Tugenden wie Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Solidarität, Empathie und Hilfsbereitschaft, die in hyperindividualisierten Zeiten zu kurz gekommen sind.

Der große mentale Shift in Richtung Resonanz bahnt den Weg für einen neuen Gemeinschaftssinn. Er zeigt sich in neuen Formen des Zusammenlebens (Co-Living-Projekte, Öko-Dörfer oder basisdemokratisch organisierte Vereinigungen), der Zusammenarbeit (von Social Business und ehrenamtlichem Engagement bis zu den vielen Unternehmen der Postwachstums- und Sinn-Ökonomie) und des Konsumierens (etwa die Prinzipien des Sharings, des kritischen Konsums und des hedonistischen Minimalismus).

Gesellschaft: Die Kraft des "Wir"

Gesellschaftliche Resilienz bedeutet im Kern, das "Ich" im "Wir" und das "Wir" im "Ich" sichtbar und erfahrbar zu machen. Ein "progressives Wir" ist gekennzeichnet durch neue Lebensentwürfe, Identitätskonstruktionen und soziokulturelle Synthesen. Eine zentrale Zukunftsaufgabe besteht darin, diese Vielfalt für alle sozialen Akteure auf einfache Weise lebbar und erlebbar zu machen. Dabei stellt auch die Kreativität einen elementaren Faktor für gesellschaftliche Resilienz dar: Standorte mit einer starken Kreativwirtschaft sind besonders widerstands- und anpassungsfähig, basierend auf lebendigen Kreativszenen vor Ort, die auch soziale Innovationen aus der Zivilgesellschaft fördern.

Der Staat ist nun aufgerufen, dem wachsenden Wunsch der Bevölkerung nach mehr Partizipation und Teilhabe aktiver zu begegnen: durch eine Politik, die Verbindungen schafft, Austausch fördert und Räume für mehr Demokratie etabliert, zum Beispiel über ein gemischtes institutionelles System aus Volksabstimmungen, Bürgerversammlungen und Wahlen, und durch die Gewährleistung eines Absicherungssystems, das Selbstwirksamkeit und (Selbst-)
Vertrauen stärkt. Auch die Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens fördert Solidarität, Partizipation und Selbstorganisation: Wer sich sicher fühlt, kann kreativer mit Krisen und Unsicherheit umgehen.

Wirtschaft: Sinn als Gewinn

Die Resilienz eines Unternehmens wurzelt in seiner Kultur. Alles, was Organisationen brauchen, um sich in volatilen Zeiten zukunftsfähiger und -sicherer aufzustellen, basiert im Kern auf einer starken kollektiven Identität, die Zusammenhalt erzeugt - und im Krisenfall den Sprung in die kreative Neuerfindung ermöglicht. Wichtig ist dabei auch die Kultivierung spielerischer Fähigkeiten: Das adaptiv-dynamische Verweilen im unendlichen Spiel wird zum langfristigen Ziel - anstelle kurzfristiger Zielsetzungen wie Quartalsergebnisse. Auf dieses Motiv der Langlebigkeit zielt auch das Konzept der Kreislaufwirtschaft.

Eine Leitidee der unternehmerischen Resilienz ist deshalb die Frage: Wie können wir selbst zu guten Vorfahren werden? In einer resilienten Ökonomie ist wirtschaftlicher Gewinn kein Selbstzweck mehr, sondern vor allem Mittel zur Zielerreichung. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Prinzip der Kollaboration. Der Shift von Konkurrenz zu Kollaboration erfordert den Mut, Strukturen und Perspektiven zu öffnen, nach innen wie nach außen, zum Beispiel durch die Ansätze von Open Knowledge und Open Innovation.

Der vorliegende Text ist auch im MKV-Magazin "Couleur" erschienen.