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Die Bequemlichkeitsgesellschaft

Von Paul Reinbacher

Gastkommentare
Wir müssen als Kunden immer mehr selber machen, zum Beispiel im Supermarkt ander Kassa . . .
© Getty / Moment RF / Grace Cary

"Convenience" hat längst Einzug im Alltag und vor allem auch im geistigen Leben gehalten.


"Das Ende der Bequemlichkeit" hat Hannes Androsch vor knapp zehn Jahren in einem Buchtitel eingefordert. Demgegenüber verstehen Bürger sich heute mehr denn je als Kunden, Konsumenten und Könige. Die Folgen dieses Zeitgeistes für die Gesellschaft sind mittlerweile kaum zu übersehen. Das moderne Prinzip der Selbstbedienung kommt langsam aus der Mode, so scheint es.

Zwar scannen wir in vielen Super- und Baumärkten beim Bezahlen am Check-out immer öfter eigenhändig unsere Einkäufe oder betanken, bestellen und bezahlen bei Diskont-Tankstellen und Fastfood-Ketten bereits beim Check-in selbst am Point-of-Sale-Terminal. Doch im Gegenzug boomen die Bequemlichkeitsindustrien.

Bestes Beispiel sind die Dienstboten von Lieferando & Co, die mittlerweile sogar das McMenü bis zur Wohnungstür bringen, sodass es nur noch den Griff zum Handy und zur Kreditkarte sowie in der Regel wenige Schritte von der Couch zur Tür braucht. Gleiches gilt für die gigantischen "Game-Changer" von Amazon bis Zalando: Alles scheint sich rund um die Bequemlichkeit für Kunden und Konsumenten zu drehen (was oft auf Kosten von Umwelt, Angestellten und vor allem neuen Scheinselbständigen geht).

. . . gleichzeitig lassen wir uns in anderen Bereichen immer mehr bedienen wie im Schlaraffenland.
© Zeichnung: Oskar Herrfurth

Vermochte noch vor wenigen Jahrzehnten ein einzeln unter Plastikfolie verpacktes, gekochtes und sogar geschältes Ei im Kühlregal bei Marks & Spencer in London zu irritieren, haben wir uns heute an das darin zum Ausdruck kommende Prinzip gewöhnt. Für Markterfolge in unseren westlichen Gesellschaften des Massenkonsums ist es unerlässlich, das Bedürfnis nach Bequemlichkeit zu befriedigen und Kunden beim Erwerb von Produkten oder bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen möglichst wenig Anstrengung abzuverlangen.

"Convenience" eignet sich kaum noch als strategisches Alleinstellungsmerkmal, die ehemalige Begeisterungs- wird zur fast selbstverständlichen Basiseigenschaft. Und für politische Erfolge gilt in vergleichbarer Weise, dass sie auf leicht verdaulichen, häppchenweise verabreichten Botschaften, die wenig Denkanstrengung verlangen, beruhen müssen.

Noch in den 1990ern konnte George Ritzer mit seinem Buch "Die McDonaldisierung der Gesellschaft" eine neue (post-)moderne Form der Rationalisierung durch Kalkulierbarkeit, Kontrolle etc. diagnostizieren und dabei das Fastfood-Restaurant als paradigmatisches Vorbild für viele Lebensbereiche identifizieren. Mittlerweile sind aber eher Soziale Medien die Signatur unserer Zeit, da sie als Sozialisationsinstanz die Erwartungshaltung vor allem jüngerer Generationen prägen.

Im Kontext von Bildungsinstitutionen wie der Schule und der Hochschule zeigt sich: Immer kürzere Aufmerksamkeitsspannen ("goldfish dilemma") und der Wunsch nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung ("instant gratification") erschweren die konzentrierte Auseinandersetzung mit komplexen Inhalten, sodass die über praxisnahe, kompetenzorientierte Ausbildung hinausgehende, klassische Bildung zunehmend als ungerechtfertigte, unbequeme Zumutung erlebt wird.

Geistige Komfortzonen

Die Bequemlichkeit ist nämlich keineswegs nur eine der konsumierenden Körper. Dies allerdings weniger wegen Oberflächlichkeiten wie Beauty-Boom und Fitness-Fetisch. Eher legen beispielsweise Reaktionen auf Aktivitäten zur Pandemiebewältigung dies nahe. Hier stoßen nicht nur Maßnahmen auf Ablehnung, mit denen körperliche Unannehmlichkeiten einhergehen (wie das Tragen von FFP2-Masken). Es offenbart sich an ihnen auch die Bequemlichkeit jener demonstrierenden Geister, die lautstark behaupten, dem Staat diene das Virus nur als Vorwand für das Beschneiden von Bürgerrechten.

Notdürftig als kollektive Kritik verkleidete Behauptungen, denen zufolge wir uns in einer "Corona-Diktatur" befinden, sind bei genauerem Hinsehen meist persönliche Befindlichkeiten, die noch dazu bei öffentlichen Kundgebungen und auf Social-Media-Kanälen vorgebracht werden - was nicht nur inhärente Ironie, sondern sogar ein Widerspruch in sich ist.

Paul Reinbacher arbeitet nach einem Studium der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie diversen beruflichen Positionen in der Privatwirtschaft an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz.
© privat

Dabei sind zentrale Erscheinungsformen von "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens" (Zitat Soziologe Richard Sennett) weniger durch die Pandemie bedingt oder durch den Staat oktroyiert, als vielmehr - aufgrund beschämender Bequemlichkeit des Geistes - selbst verschuldet. An die Stelle kritischer Auseinandersetzung auf Basis öffentlich vorgebrachter Argumente tritt der (freiwillige) Rückzug in private Diskursräume und Filterblasen, die als emotionale "safe spaces" vor unbequemer Irritation schützen.

Das gab es zwar alles schon vor Corona, jedoch hat die Krise der vergangenen beiden Jahre die dementsprechenden Tendenzen einerseits verstärkt und andererseits stärker in den Blick gerückt. Kurz: "Convenience" ist keine auf Kühlregale im Supermarkt oder auf globale Riesen des E-Commerce beschränkte Angelegenheit mehr, sondern hat darüber hinaus längst Einzug im Alltag und vor allem auch im geistigen Leben unserer Zeit gehalten.

Gefühlte Wahrheiten

Als Voraussetzung für das Verlassen der Komfortzonen verlangen viele das Anbringen von Warnhinweisen, die ursprünglich als berechtigte Trigger-Warnungen schwerwiegende Fälle von Retraumatisierung verhindern sollten, mittlerweile aber auf die Absicherung allerlei subjektiv gefühlter Wahrheiten ausgeweitet werden. Unter Berufung auf die Autorität der ersten Person wehrt sich eine emotionale und egoistische Esoterik gegen alle möglichen als unbequem empfundenen Irritationen, die durch valide Argumente und legitime Ansprüche anderer ausgelöst werden (was die Journalisten Matthias Dusini und Thomas Edlinger als "Opfersemantik" bezeichnet haben).

Ein Imperativ der Introspektion stärkt die Immunisierung gegenüber Intersubjektivität und fördert faktenferne "Fake News". Der Mensch steht als Maß aller Dinge im Mittelpunkt, jedoch nicht als ein mit Vernunft begabtes, sondern als ein Verunsicherung durch die Welt fürchtendes, bequemes Wesen. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie wir die großen Probleme unserer globalisierten Gesellschaft gemeinsam lösen wollen. Egal, ob es sich um die aktuelle Pandemie, um die dadurch vorübergehend in den Hintergrund der Aufmerksamkeit gedrängte Klimakrise oder um die Unzulänglichkeiten des Bildungssystems handelt: Keine dieser Herausforderungen und auch keine damit einhergehende wird bequem vom Sofa oder vom Schreibtisch aus mit Amazon, Alexa und Apps am Smartphone zu bewältigen sein.

Jede dieser und vieler weiterer Herausforderungen wird mehr brauchen als sich immunisierende, subjektive Selbstvergewisserung durch Sprechchöre auf der Straße oder in Sozialen Medien. "Das Ende der Illusionen" (Zitat Soziologe Andreas Reckwitz) führt, wenn der Traum von paradiesischer Bequemlichkeit und persönlicher Befindlichkeit zerplatzt, wohl zu einem bösen Erwachen und ist nicht zuletzt deshalb "in the long run" zwangsläufig ziemlich unbequem.

Gegenläufige Entwicklungen

Abschließend sollte an dieser Stelle aus Gründen der Vollständigkeit nochmals explizit festgehalten werden, dass wir uns bei Beobachtungen dieser Art keineswegs der Illusion einer eindimensionalen Entwicklung hingeben dürfen. Beispielsweise wird, wie schon angemerkt, die Bequemlichkeit privilegierter Gruppen meist mit Belastungen für andere, insbesondere für marginalisierte Gruppen mit weit weniger Wahlmöglichkeiten, erkauft.

Darüber hinaus sind wir, wie der Soziologe Daniel Bell vor bereits drei Jahrzehnten unter dem Titel "Kulturelle Widersprüche des Kapitalismus" analysiert hat, mit inkonsistenten Erwartungen konfrontiert: Wir sollen nämlich "straight by day, swinger by night" sein, also situativ zwischen den Anforderungen beruflicher und privater Situationen switchen, indem wir im Job unseren Kunden möglichst alle Wünsche erfüllen und uns nach Feierabend beziehungsweise in der Freizeit selbst in der Rolle des Kunden als König bedienen lassen.

Hinzu kommt, dass in unserer Zeit zwar auf der einen Seite ein noch nie dagewesener Aufwand für die Veröffentlichung privater Intimitäten unseres Lebens betrieben wird, auf der anderen Seite aber diese öffentliche Präsentation und vor allem die emotional aufgeladene Inszenierung auf Plattformen wie Instagram wenig zur Verteidigung des öffentlichen Lebens als eines Diskursraums beiträgt. Im Gegenteil: "Die Tyrannei der Intimität" lautet nicht umsonst der Untertitel des zuvor zitierten Buches Richard Sennetts.

Totalitäre Tendenzen im "Überwachungskapitalismus" (Zitat Ökonomin Shoshana Zuboff) fallen ja nicht zuletzt deshalb auf fruchtbaren Boden, weil große Teile der Bequemlichkeitsgesellschaft in erster Linie damit beschäftigt sind, (vorgeschobene) Befindlichkeiten zu kultivieren und (vermeintliche) Bedürfnisse gemäß zu konsumieren, statt dies zu kritisieren beziehungsweise sich für echtes kritisches Denken und Handeln zu engagieren.