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Pandemische Realitäten

Von Josef Oberneder

Gastkommentare
Josef Oberneder ist Vizerektor für Hochschulmanagement und Schulentwicklung an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich.
© privat

Corona und das Fremde als Teil unserer Gesellschaft.


Vor beinahe zwei Jahren erfasste die pandemische Realität unsere Gesellschaft. Eine Zäsur, die auch die Stärken des demokratischen Handelns berührt und erschüttert. Eine globale Krise, die keine geografischen Grenzen kennt, aber dennoch jeden Einzelnen betrifft. Menschen werden bedroht und an der Ausübung ihres Berufs behindert, andere wiederum gefeiert, weil die Impfquote im Bezirk auf fast 80 Prozent gestiegen ist. Wissenschaftliche Studien werden falsch interpretiert und für die eigene Argumentation verwendet.

Meine Frisörin, scheinbar einem bewussten Lebensstil folgend, sperrt ihr Geschäft freiwillig, weil sie die Maßnahmen der Regierung nicht mehr mittragen will. Die üblichen Illustrierten in ihrem Salon sind Zeitschriften gewichen, die eine Online-Recherche als rechtsextrem ausweist. Ein freier österreichischer Autor gründet ein Magazin, um darin "wissenschaftliche" Argumente gegen die Impfung zu publizieren. Demonstranten skandieren vor einem Hort lautstark Anti-Corona-Parolen, weil dort Masken getragen werden, und verängstigen die am Fenster stehenden Kinder. Eine Minderheit besorgter Bürger verbreitet völlig obskure Fakten. Manche fürchten gar, die Impfung könnte beim Küssen auf Ungeimpfte übertragen werden. Die Liste ließe sich schier endlos fortsetzen.

Vieles ist uns also fremd, vieles verstehen wir nicht. Wie können friedliche Bürger gemeinsam mit Rechtsradikalen demonstrieren? Warum sind in einer aufgeklärten liberalen Demokratie antisemitische Codes in so vielen verschwörungsideologischen Kontexten zu finden? All das macht uns Angst, weil wir nicht Teil dieses Fremden sind und auch nicht sein wollen. Und nein, das ist nicht ein Denken in Eliten, sondern notwendige Abgrenzung zu einem grauslichen, demokratiefeindlichen und gefährlichen Verhalten. Und doch müssen wir versuchen, das uns so Fremde zu dekonstruieren und zu verstehen, warum eine postmoderne Gesellschaft diese Giftpfeile ertragen muss; dass es zu einem massenmedial kollabierenden Diskurs kommt, zur Omnipräsenz von Tweets und Postings, die keiner zeitlichen und inhaltlichen Limitierung unterliegen; einer Art stillgelegter Gesellschaft, die sich eine "Auszeit" nehmen musste; einer unruhigen und destabilisierten Gesellschaft, einer "Bequemlichkeitsgesellschaft" (Zitat Bildungswissenschafter Paul Reinbacher), einer "Next Society", wie es einst der Pionier der modernen Managementtheorien, Peter Drucker, formulierte.

Müssen wir aber nicht gleichzeitig die Hoffnung pflegen, dass dies alles ein vorübergehender Zustand ist? Dass es Post-Corona-Zeiten geben wird? Wir müssen uns darauf vorbereiten, das Fremde als eine Einheit unserer Gesellschaft zu sehen, als eine Art distanzierende Form des Miteinanders; dass es, um ein Bild des Soziologen Georg Simmel zu nutzen, nicht um eine Art Wandernden geht, der heute kommt und morgen geht, sondern der bleibt; um jemanden, der mit seinem Denken und Handeln in Relationen und Wechselwirkungen das Fremde in den Modus der Präsenz und des Bearbeitbaren schiebt. Vielleicht würde es uns mit diesem Perspektivenwechsel gelingen, die kognitiven und sozialen Paradoxien der Pandemie zu verstehen. Dies wäre zumindest ein erster Schritt zum Wiedereintritt in eine gesellschaftliche Dialogbereitschaft.