Zum Hauptinhalt springen

Politik, Daten und die Erkenntnis

Von Clemens Maria Schuster

Gastkommentare
Clemens Maria Schuster ist Start-up-Unternehmer, Berater und Uni-/FH-Lektor. Geboren in Graz. Er wurde 2020 und 2021 in der Schweiz als "Digital Shaper: Infrastructure Building" für seine Plattform Politik.ch beziehungsweise sein Unternehmen PolitAnalytics AG ausgezeichnet. Ab Sommer 2022 wird das Politik-Daten-Start-up unter der Marke Politanalytics.com eine gewichtige Rolle im Brüsseler Politikbetrieb spielen.
© Evi Fragolia / evifragolia.com

Was uns der Apollo-Tempel in Delphi über den Umgang mit Daten lehren kann.


"Erkenne dich selbst", oder etwas spezifischer: "Erkenne, was Du bist" - diese vielzitierte Inschrift am Apollo-Tempel von Delphi erhält im Kontext der Digitalisierung ganz unerwartet eine völlig neuen Bedeutung. In der Grundinterpretation ging es um die Einsicht in die Begrenztheit, Fehlbarkeit, Unvollkommenheit des Menschen - im Gegensatz zu den Göttern. Mit Platon kommt es zu einem Bedeutungswandel: Die Aufforderung zur Selbsterkenntnis ist der Ausgangspunkt für die individuelle Einsicht, sich zu entwickeln. Ein positiveres Menschenbild wird geprägt, demnach eine gottähnliche Seele in uns Menschen wohne. Gerade weil ich sowohl klassischer Philologe als auch Digitalunternehmer bin, erlaube ich mir einen Ikarus-Flug mit sanfter Landung, denn es gibt ganz konkrete Lösungsangebote.

Daten können Leben retten

Die letzten beiden Corona-Jahre haben weiten Teilen unserer Gesellschaft und den Lenkern in Politik und Wirtschaft gleichermaßen gezeigt, auf welch prekären Entscheidungsgrundlagen überlebenswichtige Maßnahmen gesetzt werden müssen. Wir alle haben die ersten Schreckenszeit in Erinnerung, als die Politik im Dunkeln tappte. Von der Europäischen Union war kaum mehr die Rede, als in Wild-West-Manier Masken, Schutzkleidung und medizinische Gerätschaften auf Flughäfen beschlagnahmt wurden.

Das langsame Herantasten an Begriffe wie "Inzidenz", "exponentielles Wachstum", "flatten the curve" bis hin zur "Triage" prägt unser kollektives Gedächtnis: Wir haben gelernt, die hundert Jahre alten Kurven der Spanischen Grippe mit den aktuellen Omikron-Zahlen zu vergleichen. Und dennoch schaffen wir es nach bald zwei Jahren Pandemie nicht, weder innerhalb Österreichs und noch viel weniger auf europäischer Ebene, wirklich vergleichbare Datensätze zu erheben und weiterzuentwickeln: Welche Daten-Meldung zählt - die "Morgenmeldung" aus dem Innen- oder doch die "konsolidierte Mittagsmeldung" der Ages aus dem Gesundheitsministerium? Wie stark wird auf die regionale Gliederung gesetzt, und ist dann zum Beispiel ein Cluster in Melk ausreichend, um das gesamte Weinviertel mit in die roten Zone zu stecken und damit erneut Reisebeschränkungen anzuordnen?

Zwei Ursachen kristallisieren sich für diese problematische Gemengelage heraus: Erstens lassen sich im Föderalismus auffallend viele dieser Datenprobleme festmachen. Wenn auch noch starkes Leadership auf der föderalen Ebene durch zuständige Organe fehlt, folgen Alleingänge und Zurückhaltung bis hin zum aktiven Verhindern sauberer Daten. Zweitens fehlt ein Informationsfreiheitsgesetz und damit verbunden eine Kultur innerhalb der Verwaltung, die das Aufbereiten, Verarbeiten, Publizieren und Weiterentwickeln von Daten als Auftrag zum Schaffen von Mehrwert versteht. Die Absichtserklärungen zur Abschaffung des Amtsgeheimnisses sind jahrelang ins Leere gelaufen.

Dabei sind Daten alleine natürlich noch zu wenig. Es braucht viel mehr als reine Daten, um sie (richtig) zu interpretieren und daraufhin nachvollziehbare Entscheidungen treffen zu können - die modernen Begriffe dafür lauten "data driven" und "evidenzbasiert". Notwendig sind die dazugehörigen Ordnungssysteme, Taxonomien, und natürlich auch die konstante Verfügbarkeit der Daten selbst. Die Konzepte dazu werden unter den Begriffen "Open Data" beziehungsweise "Open Government Data", also offene Verwaltungsdaten, zusammengefasst.

Die Kriterien für offene Daten

Im Jahr 2006 wurden die bis heute gültigen Kriterien von der Open Knowledge Foundation zusammengestellt: Es sind nicht-personenbezogene Daten aus Politik, öffentlicher Verwaltung und Wissenschaft, die vollständig und rasch in offenen Formaten und über offene Schnittstellen uneingeschränkt maschinenlesbar versioniert, historisiert, kategorisiert durch klare Metadaten und im besten Fall kostenfrei sowie unter der freiestmöglichen Lizenz (Creative Commons) publiziert und erhalten werden.

Das klingt nach einem technischen Zugang, um einen einfachen Sachverhalt zu beschreiben: Daten, die mit Steuergeld finanziert wurden, stehen als Allgemeingut zur Verfügung. Nochmals: Es geht nicht um persönliche Daten - eines der wichtigsten Kriterien überhaupt! Es verhält sich wie mit einer Straße: Jeder kann sie benutzen, die einen mit dem Fahrrad, die anderen mit dem Familien-Pkw, und wieder andere kaufen sich Lkw, gründen eine Spedition und lassen sich dafür bezahlen, Güter von A nach B zu transportieren - auf eben jener Straße, die wir alle bezahlt haben. Eine allgemein verfügbare Ressource wird - unter bestimmten Regeln - von allen genutzt.

Auf diese Weise wird von und für die öffentliche Hand, Unternehmen und natürlich auch Privatpersonen Sinn und Nutzen gestiftet, um daraus gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und ökologischen Mehrwert zu schöpfen. Schon seit Jahren lanciert eine lebendige Szene rund um Open-Data-Aktivisten unzählige Apps und Services - gerade die Pandemie brachte dafür unzählige wertvolle Beispiele, wie etwa die simple Übertragung des Grünen Passes ins Apple-Wallet von iPhones, spezifische Dashboards zu Regionen und Gemeinden oder Reise-Apps.

Was gehört wem, wenn es alle betrifft?

Wenn man diese Idee weiterdenkt, landet man rasch bei den sogenannten "Commons", den Gemeingütern, der Allmende, etwas, das allen gleichermaßen gehört respektive nicht gehört. Übersetzt in die Frage nach den Daten sehen wir schnell, dass vor allem die Social-Media-Plattformen und Digitalkonzerne wie die westlichen Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft (Gafam) oder die chinesischen Alibaba und Tencent unser aller digitales Leben vollständig dominieren. Sie stehen beispielhaft für die sogenannte Plattform-Ökonomie: digitale Marktplätze, die allerdings so groß und umfassend geworden sind, dass sie Kartellen gleich den gesamten Markt beherrschen und aufgrund dieser Macht jegliche neuen Anbieter verdrängen oder aufkaufen. Es sind allesamt private, börsennotierte, gewinnorientierte Unternehmen, deren Geschäftsmodell oft auf Werbung - und damit der Ausbeutung höchstpersönlicher Daten - basiert. Das ganze Gegenteil von offen.

Die Aktivitäten zur Zerschlagung und anschließenden Vergemeinschaftung, etwa von Facebook, kommen wider Erwarten aus wirtschaftsfreundlichen Kreisen, an deren Spitze die US-Kartellbehörde FTC: Sie startete im Sommer 2021 bereits den zweiten Anlauf, vor Gericht die Zerschlagung des digitalen Riesen zu erwirken. Die technischen Aspekte rund um offene Daten werden von den meisten demokratischen Ländern gemeistert, aber es braucht zwingend vermittelnde Instanzen wie Lehrer, Erwachsenenbildner und verständige Medienschaffende. Das "Fach" heißt dann "Digital Literacy".

Der Begriff ist schwerfällig. Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung definiert ihn im Dossier "Medienkompetenz und Digital Literacy" entlang der Begriffe "Offenheit", "Partizipation", "Gesellschaftsrelevanz" und "Lebensweltorientierung": Alle Bürger müssen sich neu und wiederkehrend diese notwendigen Voraussetzungen verschaffen, um am politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen und teilgeben zu können. Gerade Partizipation muss dabei in beide Richtungen verstanden werden.

Was es braucht: Bildung, Bildung, Bildung

Durch die Mechanismen der Plattform-Ökonomie gelten in einer in ihren Machtverhältnissen vollkommen anders gestalteten Welt von Information, Nachrichten und deren Verbreitung auch neue Regeln. Ohne die Grundlage offener Daten sind diese nahezu unmöglich zu verstehen, anzuwenden und weiterzuentwickeln. Die lebenslange Aus-, Fort- und Weiterbildung ist gerade seit der umfassenden und flächendeckenden Digitalisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche aktueller und dringender denn je. "Digital Literacy" hat nur wenig mit dem Lebensalter zu tun: Jüngere Generationen sind vielleicht gewandter in der Verwendung von Apps und Social Media - gleichzeitig naiver. Die älteren Generationen müssen hingegen gezielt beim niederschwelligen Zugang gefördert werden.

Nur keine Angst - ganz der Tradition des Orakels von Delphi folgend: Neben dem "Erkenne dich selbst" steht nämlich noch eine weitere Inschrift: "Nichts im Übermaß." Damit verfügen wir also über zwei erhellende und optimistische Handlungsmaximen. Gerade für das digitale gesellschaftliche Zusammenleben: Neben der Selbsterkenntnis und Aufforderung zur ständigen Weiterentwicklung gilt die Maßgabe, es inklusiv, partizipativ, offen und gemeinschaftlich zu halten.