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Die Brexit-Party bleibt aus

Von Holger Hestermeyer

Gastkommentare
Holger Hestermeyer ist Professor für Internationales Recht und EU-Recht am King’s College in London und forscht am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.
© privat

Der polarisierte politische Diskurs lässt eine nüchterne Betrachtung nicht zu.


Berichte über Großbritannien geraten derzeit schnell zum Défilé bunter Charaktere und immer neuer Skandale. Niemand verkörpert dies mehr als Boris Johnson, der Premier mit der stets sorgfältig zerzausten blonden Mähne. Johnson, der sich von Spendern einen 15.000-Pfund-Karibikurlaub und die luxuriöse Renovierung seiner Dienstwohnung in Downing Street Nr. 10 finanzieren ließ. Johnson, der strenge Kontaktbeschränkungen verkündete, gleichzeitig aber an Partys in der Downing Street teilnahm, was er lange bestritt. Johnson, der Lügen und Halbwahrheiten verbreitet, in steter Spannung zum ministeriellen Verhaltenskodex, der den Rücktritt verlangt, wenn ein Minister das Parlament irreführt. Es fällt schwer, sich nicht im bunten Spektakel zu verlieren. Dabei verdient das, was in Großbritannien vor sich geht, unsere Aufmerksamkeit als Lehrstück über die Gefahr der zunehmenden Polarisierung in der politischen Kultur.

Auf der Suche nach der Ursache für den Zustand des dortigen politischen Diskurses stößt man unweigerlich auf den Brexit. Eigentlich sollte das Referendum 2016 den euroskeptischen Flügel der Konservativen zur Raison bringen, stattdessen erreichte die "Leave"-Bewegung eine knappe Mehrheit mit der Strategie, alle Nachteile eines EU-Austritts zu bestreiten, Hinweise darauf als Panikmache abzutun und Aussagen über die Zukunft nach dem Brexit so vage zu halten, dass von Neoliberalen bis zu Gewerkschaftern alle durch den Brexit die Realisierung ihres persönlichen regulativen Paradieses erhoffen konnten. Als es nach dem Referendum im Parlament konkret wurde und keine Mehrheiten zu erlangen waren, schlug die Stunde Johnsons, der mit dem Versprechen, den Brexit durchzuführen, einen Wahlsieg errang, gemäßigte Politiker aus der Partei drängte und wohl auch dank seines problematischen Verhältnisses zur Wahrheit das Austrittsabkommen durchbrachte.

Zwei Jahre nach dem Austritt will keine Feierlaune aufkommen. Es mehren sich Berichte über wirtschaftliche Schäden. Die Landwirtschaft leidet unter ausbleibenden Saisonarbeitern, das Gesundheitssystem unter dem Wegzug von Krankenpflegern. Die Armee musste fehlende Lkw-Fahrer ersetzen. Die Zollbehörden sprechen von jährlichen Kosten für die Industrie in Milliardenhöhe durch die neuen Zollanforderungen im Verhältnis mit der EU. Dies hinterlässt Spuren: So ist Großbritannien zwischen 2015 und 2021 von Rang 5 auf Rang 10 der wichtigsten Handelspartner Deutschlands abgestürzt.

Der polarisierte Diskurs lässt eine nüchterne Betrachtung des Brexit nicht zu. Mit großem argumentativen Aufwand und teils erschreckend geringem Wahrheitsgehalt negiert die Regierung offensichtliche und zwangsläufige Folgen und ringt verzweifelt darum, Vorteile auszumachen: Jahre nach dem Referendum wurde nun am 8. Februar ein Minister für Brexit-Möglichkeiten ernannt. Kritik toleriert die Regierung ungern, sie greift die BBC an und versuchte, die richterliche Kontrolle von Regierungsakten und das Demonstrationsrecht einzuschränken. All dies wird in der polarisierten Diskussion verziehen, da man dem Gegner keine Konzessionen machen darf. Die Grundfesten des demokratischen Diskurses wanken.