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Frieden ist die einzige Option

Von Werner Wintersteiner

Gastkommentare
Werner Wintersteiner ist Gründer und ehemaliger Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Buchtipp: "Die Welt neu denken lernen" (transcript, open access, 2021).
© WW

Acht Punkte zum Angriff auf die Ukraine aus friedenspolitischer Sicht


1. Wir Friedensforscher haben uns geirrt. Wir dachten, Wladimir Putin möchte die von Aufständischen besetzten Gebiete in der Ostukraine dauerhaft sichern und sich vielleicht offiziell einverleiben, mit Drohungen und Kriegsgeschrei. Offenbar will er aber mehr. Er bestreitet das Recht der Ukraine als selbständiger Staat und nennt die Militärinvasion einen Akt zur "Entmilitarisierung und Entnazifizierung" des Landes, das heißt: Er will die gesamte militärische Infrastruktur zerstören und die Regierung stürzen.

2. Die westliche Friedensbewegung hat vor der verhängnisvollen Kriegslogik der Ukraine-Krise gewarnt und darauf hingewiesen, dass auch der Westen an der Eskalation seinen Anteil hat. Sie hat sich aber wohl zu sehr auf die Fehler der eigenen Seite konzentriert, vor allem auf die massive Ausweitung der Nato nach 1989, mit der ein De-facto-Versprechen an die sich auflösende Sowjetunion gebrochen wurde und die Russland als Bedrohung empfinden musste. Ohne es klar auszusprechen, dachte sie, wenn diese Politik korrigiert werde, würde Russland zufriedengestellt sein, und die Spannungen würden nachlassen. Auf dieser Argumentationslinie beruhte auch die gut begründbare Forderung nach Neutralität der Ukraine, die allerdings von der westlichen Politik niemals aufgegriffen wurde. Offenbar war auch diese unsere Überlegung nur teilweise richtig. Jetzt müssen wir feststellen: Dann hätte Putin zwar einen wesentlichen Vorwand für seine Invasion weniger gehabt, aber es ist keineswegs sicher, dass die Invasion nicht mit anderen Argumenten gerechtfertigt worden wäre.

3. Es wirkt so, als hätte der Schachspieler Putin eine Lücke in der gegnerischen Abwehr entdeckt, die er eiskalt ausgenutzt hat. Er wusste, dass niemand die Ukraine militärisch verteidigen würde, und er kannte die relative Wirkungslosigkeit von Sanktionen nach der Einverleibung der Krim. Der politische Realismus als Erklärungsmodell bewährt sich also leider, zumindest auf den ersten Blick und wenn man den Konflikt kurzfristig betrachtet. Aber der Konflikt hat mehrere Dimensionen und lässt sich nicht auf ein Schachspiel reduzieren.

4. Es ist auffällig, wie wenig Medien sowie politische Expertinnen und Experten die historische Dimension einbezogen haben, vor allem nicht die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit mit den blutigen Kämpfen zwischen der Sowjetunion und der ukrainischen UPA (1943 bis 1947). Dabei spricht Putin permanent von geschichtlichen Ereignissen, imaginiert sich als neuer Zar, der die "Fehler der Kommunisten" korrigiere, und legitimiert seine Aggression als "Antifaschismus", in der Tradition des Kampfes gegen die UPA. Hier wird sichtbar, wie wenig eine formale Konfliktlösungsstrategie hilft, die letztlich ein gemeinsames Interesse der Akteure unterstellt, den Konflikt zu lösen, und darauf verzichtet, die komplexen psycho-historischen Verwundungen, Ansprüche, Interessen, Begierden und quasi kompensatorischen Wünsche zu berücksichtigen. Statt über Putins Psychologie zu rätseln, sollte man vielmehr die Geschichte studieren, auf die er sich ständig beruft. Genauer gesagt: Wir müssen uns sowohl damit beschäftigen, wie sehr historische Ereignisse die kollektiven Gefühle und Weltbilder der Gegenwart prägen, als auch damit, wie sehr machthungrige Politiker bereit sind, diese Gefühle zu manipulieren und diese Weltbilder zu instrumentalisieren, um ihren politischen Zielen den Anschein von Legitimität zu verleihen.

5. Jeder Krieg schafft neue Tatsachen. Eine dieser Tatsachen ist, dass die Stimme des europäischen Pazifismus leiser werden wird, dass zivile Konfliktbearbeitung als diskreditiert gelten wird, dass diejenigen, die schon längst nach einer europäischen Aufrüstung rufen, noch viel mehr Gehör finden werden. Wir erleben, dass dieser blinde Reflex nach einem Zurückschlagen auch bereits Menschen ergriffen hat, die sich selbst zur Friedensfraktion zählten. Putins Argument, er habe keine Alternative gehabt - eine typische Äußerung aller Kriegstreiber -, darf nicht spiegelverkehrt ebenfalls in Anspruch genommen werden. Wir meinen im Gegenteil; Das Ende des Friedens darf nicht das Ende der Friedenspolitik sein, wie es in einem Statement der deutschen Friedensforschung heißt. Das erste, was klargestellt werden sollte, ist, dass es sinnvolle friedliche Optionen gibt, auch wenn man von ihnen nicht erwarten darf, dass sie kurzfristig die Gewalt beenden und das getane Unrecht rückgängig machen können.

6. Die russische Invasion muss in allen internationalen Gremien, angefangen von der UNO, geächtet werden. Eine Dringlichkeitssitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen ist eine wichtige moralische Instanz, aber es gibt eine Vielzahl internationaler Institutionen. Es handelt sich auch in diesem Konflikt nicht nur um einen Konflikt zwischen Staatsführungen, sondern auch zwischen Gesellschaften. Es ist wichtig, wie die öffentliche Meinung denkt - auch in Russland. Politische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen sollten die Invasion ablehnen, aber zugleich den Kontakt zu Organisationen und Institutionen in Russland beibehalten, auch wenn bekannt ist, wie gering deren Spielraum ist.

6. Jeder Konflikt, der eskaliert - und ein Krieg erst recht -, führt dazu, dass komplexes Denken zugunsten von Vereinfachungen sowie klaren Freund-/Feind-Bildern aufgegeben wird. Demgegenüber müssen wir darauf beharren, die gesamte Geschichte und Dynamik dieses Konflikts zu beleuchten, was häufig bedeutet, nicht auf ein "entweder/oder", sondern auf ein "sowohl/als auch" zu setzen. Man muss daher die russische Invasion verurteilen und zugleich Russland "legitime Sicherheitsinteressen" zugestehen, die allerdings nur im Dialog mit dem Gegenüber zu konkretisieren und mit friedlichen Mitteln zu realisieren sind. Man muss die (westliche) Front der diplomatischen Verurteilung und wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland unterstützen und zugleich kritisieren, dass auch der Westen den Konflikt hat eskalieren lassen.

7. Der Konflikt wird häufig mit dem Kalten Krieg verglichen. Gerade in diesem wurden aber Instrumente wie Rüstungsbeschränkungen und das System der kollektiven Sicherheit entwickelt, um die Bedürfnisse aller Seiten zu berücksichtigen und auf diese Weise Spannungen abzubauen. Jetzt ist die Situation viel komplizierter - aber es wird langfristig keinen anderen Weg geben, als diese Instrumente wieder anzuwenden.

8. Wir dürfen nicht glauben, dass Putins militärische Erfolge seine Macht dauerhaft sichern werden. Zwar werden die Wirtschaftssanktionen trotz ihrer moralischen Funktion realpolitisch wenig bewirken, zumal Russlands Kriegskasse viel besser gefüllt ist als bei der Eroberung der Krim 2014 und auch das Bündnis mit China heute viel enger ist. Doch das Unrecht dieses neuen Krieges ist eine moralische Bankrotterklärung, die langfristig die Legitimation von Putins Macht auch in der eigenen Bevölkerung untergräbt. Darauf gilt es hinzuarbeiten.