Zum Hauptinhalt springen

Asyl und Migrationspakt: zu wenig, zu spät?

Von Jovana Tosic

Gastkommentare
Jovana Tosic ist PhD-Kandidatin an der juridischen Fakultät der Universität Belgrad. Sie forscht zum EuGH und zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Aktuell ist sie Gastwissenschafterin am Ludwig Boltzmann Institut für Grund- und Menschenrechte in Wien.
© privat

Die aktuellen Herausforderungen werden der EU mehr denn je Kompromisse abverlangen.


Die Syrien-Krise, die im Jahr 2015 zur größten Flüchtlings- und Migrantenbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg in Richtung Europa führte, hat zahlreiche Mängel am Migrations- und Asylsystem der EU offenbart. Die Situation hat sich durch die Corona-Pandemie sowie die jüngsten Afghanistan- beziehungsweise Weißrussland-EU-Krisen weiter verschärft. Auch die aktuelle russische Invasion in der Ukraine hat bereits eine weitere große Migrationswelle in die EU ausgelöst. Angesichts der anhaltenden Berichte über verschiedene willkürliche Praktiken an den Außengrenzen wie gewaltsame Zurückdrängung, Bau von Mauern oder Zäunen, Errichtung neuer Haftzentren sowie mangelnde Bereitschaft, die Verantwortung für Such- und Rettungsaktionen zu übernehmen, ist es klar, dass die aktuellen Herausforderungen der EU mehr denn je Kompromisse abverlangen werden.

Den oben genannten Problemen widmet sich der jüngste Vorschlag der EU-Kommission für den neuen Pakt zu Asyl und Migration. Dieser zielt speziell darauf ab, die derzeitige Pattsituation und das Ungleichgewicht in der EU in Hinblick auf Verantwortung und Solidarität zu überwinden. Der Pakt schlägt die Abschaffung des derzeit geltenden Dublin-Systems vor, das weithin als ineffizient, ungerecht und unmenschlich angesehen wird. Auch wurde es dafür kritisiert, dass es eine unverhältnismäßige Belastung für die "Frontlinien"-Mitgliedstaaten (Griechenland, Italien und Spanien) darstellt, da es diese für die Aufnahme von Asylwerbern und Flüchtlingen verantwortlich macht.

Im Mittelpunkt des Vorschlags der EU-Kommission steht der sogenannte obligatorische Solidaritätsmechanismus, der jeden einzelnen Mitgliedstaat dazu verpflichtet, Migranten und Flüchtlinge in irgendeiner Weise zu unterstützen - sei es durch die Aufnahme in seinem Hoheitsgebiet, durch die Unterstützung bei der Rückkehr in die Herkunftsländer oder durch eine andere Form der Hilfe für die Aufnahmeländer von Migranten. Darüber hinaus werden obligatorische Kontrollen vor der Einreise und Grenzverfahren vorgeschlagen, die verstärkte Sicherheits- und Gesundheitskontrollen von Menschen auf Reisen bedeuten würden. Ziel ist es, die Kontrollen an den Außengrenzen zu verstärken und die Weiterleitung in ein geeignetes Verfahren (entweder Asyl oder Rückkehr) zu beschleunigen.

Der vorgeschlagene Pakt ist jedoch weit entfernt von einem "Neuanfang", wie er ursprünglich von der Kommission angekündigt wurde, denn er löst mehr Bedenken aus, als er praktische Lösungen liefert. In Ermangelung eines wirklich obligatorischen Umsiedlungsverfahrens werden die Mitgliedstaaten, in denen Geflüchtete zuerst ankommen, weiterhin mit einem übermäßigen Migrationsdruck konfrontiert sein, während andere (nicht konforme) Mitgliedstaaten über zusätzliche Schlupflöcher verfügen werden, um sich der gemeinsamen Verantwortung zu entziehen.

Neue Aufnahmekriterien

Das obligatorische Screening-Verfahren vor der Einreise ist höchst problematisch, da es die Gefahr einer willkürlichen Inhaftierung und der Verletzung grundlegender Verfahrensgarantien im Zusammenhang mit den Rechten von Migranten (Zugang zur Justiz, Verfügbarkeit wirksamer Rechtsmittel, menschenwürdige Aufnahmebedingungen usw.) birgt. Obwohl der Pakt keine Inhaftierung vorsieht, ist die praktische Umsetzung eines derart gründlichen Screening-Verfahrens ohne diese schwer vorstellbar. Außerdem könnten beschleunigte und geförderte Rückführungsmaßnahmen für Menschen, die nicht für die Einreise ins EU-Hoheitsgebiet in Frage kommen, die Mitgliedstaaten dazu veranlassen, Massenausweisungen vorzunehmen, die gegen internationale Menschenrechtsstandards wie den Grundsatz des Non-Refoulement verstoßen.

Was wäre der beste Weg, um mit den anhaltenden Migrationsproblemen umzugehen, nämlich mit der bisher ungerechten Verteilung von Flüchtlingen und Asylbewerbern in der EU? Zuallererst sollte das Dublin-Prinzip des ersten Ankunftslandes zugunsten eines flexibleren (und obligatorischen) Umsiedlungsmechanismus überwunden werden, der den realen Szenarien Rechnung trägt und über die bekannten Solidaritätsbekundungen hinausgeht. Zweitens sollte die EU die Stärkung der internen Aufnahmekapazitäten in den Vordergrund stellen, anstatt nach externen Lösungen durch verschiedene Outsourcing-Abkommen zur Migrationssteuerung (wie dem kürzlich mit der Türkei neu ausgehandelten) zu suchen. Außerdem sollten korrekte Kriterien für die Aufnahme von Migranten auf der Größe des Aufnahmelandes, der Zugänglichkeit des Arbeitsmarktes, dem Lebensstandard und dem Wirtschaftswachstum basieren und nicht auf rein nationalen politischen Interessen.

Leider kann die derzeitige politische Realität diesen Erwartungen nicht gerecht werden. Die jüngsten Bemühungen wirken wie alter Wein in neuen Schläuchen mit geringen Erfolgsaussichten, vor allem angesichts der anhaltenden Abneigung der Visegrad-Staaten (Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei) gegen die Verteilung von Flüchtlingen und Asylbewerberen in der EU. Um das bereits geschwächte Gemeinsame Europäische Asylsystem wieder auf zu bauen, muss die Union aufhören, die Länder an der Außengrenze im Stich zu lassen, und davon absehen, die Grundrechte von Asylbewerbern und Flüchtlingen zu verletzen. Andernfalls wird sie die Fehler der Vergangenheit wiederholen.