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Krieg und Resilienz

Von Michael Spence

Gastkommentare
Michael Spence ist Wirtschaftsnobelpreisträger und Professor emeritus an der Universität Stanford sowie Senior Fellow der Hoover Institution. Sein Text erscheint in Kooperation mit der Non-Profit-Organisation Project Syndicate (www.project-syndicate.org) in der "Wiener Zeitung".
© NYU

Wird Russlands Angriff auf die Ukraine eine Diversifizierung des Handels beflügeln?


Die Stärkung der Resilienz hat sich in den vergangenen Jahren, insbesondere während der Corona-Pandemie, zu einer Art Mantra entwickelt. Aber Maßnahmen zur Steigerung der wirtschaftlichen Sicherheit und zur stärkeren Diversifizierung wurden nur langsam umgesetzt. Im Gefolge des russischen Einmarsches in der Ukraine jedoch könnte sich das nun ändern.

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg setzten die wirtschaftlichen Akteure weltweit deutliches - und wachsendes - Vertrauen in ein breit angelegtes internationales Bekenntnis zu einer relativ offenen Weltwirtschaft. Anders als in der weiter zurückliegenden Vergangenheit, als Länder zur Absicherung ihrer Wirtschaftsinteressen regelmäßig Krieg führten, fürchteten die politischen Entscheidungsträger willkürliche oder politisch motivierte Verweigerungen des Zugangs zu wichtigen Ressourcen oder Märkten kaum. Sie konnten ihre Sorgen auf Themen wie das Risiko sich wandelnder Angebots- und Nachfragebedingungen und mitunter heftiger Preisschwankungen beschränken, dem ihre Volkswirtschaften ausgesetzt waren.

Doch Spannungen, Reibungen und Blockaden bei den globalen Lieferketten in der Pandemie begannen dieses Vertrauen zu untergraben. Preise und Märkte waren nicht die primäre Determinante der Verteilung von Impfstoffen. Darüber hinaus haben China, die USA und andere Länder unter Verweis auf die nationale Sicherheit hohe Hürden für den Marktzugang ausländischer Technologie-Unternehmen (insbesondere der ihrer Rivalen) errichtet.

Ganz allgemein haben sich Wirtschafts- und Finanzsanktionen, insbesondere in den USA, zur bevorzugten außenpolitischen Waffe entwickelt. Es sollte daher - besonders angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass Russland ein direktes militärisches Eingreifen der Nato in der Ukraine als Kriegserklärung betrachten würde - nicht überraschen, dass die Reaktion des Westens auf die Ukraine-Krise größtenteils aus Sanktionen besteht. USA und EU leiteten rasch Schritte ein, um wichtige russische Banken durch den Ausschluss aus dem Finanzkommunikationssystem Swift vom internationalen Zahlungsverkehr abzuschneiden, und haben jetzt die Vermögenswerte der russischen Notenbank eingefroren.

Handelspartner und wirtschaftliche Sicherheit

Angesichts von Russlands schon jetzt taumelnder Wirtschaft ist inzwischen glasklar, dass die wirtschaftliche Sicherheit eines Landes von seinen breiter angelegten Beziehungen zu seinen Handelspartnern abhängt. Diese müssen angemessen zuverlässig und berechenbar sein. Das stellt insbesondere die EU, die in der wenig beneidenswerten Lage ist, stark auf russische Energieeinfuhren angewiesen zu sein, vor ernste kurzfristige Herausforderungen.

Gegenwärtig liefert Russland fast 40 Prozent von Europas Erdgas. Die Furcht vor dem Verlust dieser Lieferungen hat die wirtschaftliche Reaktion des Westens auf den Einmarsch in der Ukraine deutlich gehemmt. So widersetzten sich wichtige EU-Länder zunächst einem Swift-Ausschluss Russlands, und als die Entscheidung getroffen wurde, waren nur "ausgewählte" Banken betroffen.

Zugleich ist Russland darauf angewiesen, dass die EU weiter sein Gas kauft. Daher ist die womöglich stärkste wirtschaftliche Waffe im Arsenal des Westens eine, die die EU nicht nutzen kann, ohne sich selbst schweren Schaden zuzufügen. Das Ergebnis ähnelt der "sicheren gegenseitigen Vernichtung", auf die die Welt zur Abschreckung vor Nuklearschlägen seit langem zählt.

Der italienische Premier Mario Draghi gestand vorige Woche ein: "Die Ereignisse dieser Tage zeigen, dass es unklug war, dass wir unsere Energiequellen und Lieferanten in den vergangenen Jahrzehnten nicht stärker diversifiziert haben." Tatsächlich scheint Europa in der Frage seiner Energieversorgung in eine Ecke gedrückt worden zu sein, obwohl die nicht energiebezogenen Sanktionen unzweifelhaft hart sind und noch weiter verschärft werden können. In jedem Fall sind die Kosten jeglicher Sanktionen - einschließlich der Isolation Russlands von den Weltmärkten und seines Verlusts des Zugangs zu Produkten und Technologien - erheblich davon abhängig, in welchem Umfang sich China zu seiner Unterstützung entschließt.

Für den Augenblick müssen die europäischen Regierungen schlicht mit dem fertig werden, was da kommt. Doch um in einer zunehmend turbulenten Welt ihre Sicherheit längerfristig zu stärken, müssen Länder auch eine - durch Diversifizierung erzielte - Stärkung ihrer wirtschaftlichen Resilienz in ihre außenpolitischen Strategien einbinden.

Was die Energie angeht, so könnte Europa es Japan nachmachen, das ebenfalls völlig von Importen fossiler Brennstoffe abhängig ist. Japan kauft sein Öl von mehreren Ländern im Nahen Osten und Erdgas in Form von Flüssigerdgas unter anderem von Australien, Malaysia, Katar, Russland und den USA, wobei der größte Marktanteil mit 27 Prozent auf Australien entfällt. Würde Europas Energiebeschaffung stärker der Japans ähneln, wäre die Kosten-Nutzen-Struktur seiner Maßnahmen im derzeitigen Wettstreit zwischen Russland und dem Westen eine ganz andere. Es hätte die Macht, Russland über energiebezogene Sanktionen asymmetrische Kosten aufzuerlegen.

Erhebliche, teils unkorrelierte Risiken

Der Wert der Diversifizierung steigt mit der Größenordnung relativ unkorrelierter Risiken, denen man ausgesetzt ist. Manche werden nun darauf hinweisen, dass eine derartige Diversifizierung kostspielig ist, nicht zuletzt, weil sie die Effizienz verringert. Doch während sich die Kosten in einem stabilen, risikoarmen Umfeld womöglich nicht lohnen würden, leben wir nicht in einem derartigen Umfeld. In der heutigen Welt fallen die Kosten der Diversifizierung neben den potenziellen - und wahrscheinlichen - Kosten von Störungen kaum ins Gewicht. Angesichts erheblicher, teils unkorrelierter Risiken ist Diversifizierung die beste Strategie.

Das gilt nicht nur für Importe. Angesichts der Tatsache, dass einem der Marktzugang abgeschnitten werden kann - China hat diese Erfahrung in der Regierungszeit von US-Präsident Donald Trump gemacht -, sollten Länder sich auch bemühen, ihre Exportmärkte zu diversifizieren. Auch wenn eine Diversifizierung weg von so großen Volkswirtschaften wie den USA oder China schwierig ist, können Länder Schritte in diese Richtung unternehmen.

Die dringendste Notwendigkeit besteht natürlich darin, eine Diversifizierung weg von unberechenbaren Handelspartnern zu verfolgen. Partner, mit denen die Umgangsregeln klar vereinbart sind und aller Voraussicht nach stabil bleiben werden, stellen ein deutlich geringeres Risiko dar, was die Vorteile der Diversifizierung verringert. Trotzdem sollten Länder eine übertriebene Abhängigkeit von jedem Partner - egal, wie stabil - vermeiden, und zwar nicht zuletzt aufgrund der steigenden vom Klimawandel ausgehenden Risiken.

Es ist anzumerken, dass das notwendige Maß an Diversifizierung - also ein Niveau, das die wirtschaftliche Sicherheit eines Landes und seine Verhandlungsposition im Krisenfall stärkt - sich kaum als reines Marktergebnis einstellen dürfte, weil die wirtschaftlichen und strategischen Vorteile nicht vollständig den Marktteilnehmern zugutekommen. Obwohl ihnen die Risiken bewusst sind und sie sich nicht weigern werden, Märkte und Lieferquellen prinzipiell zu diversifizieren, werden sie dabei wohl nicht weit genug gehen.

Angesichts dieser Sachlage müssen Ordnungspolitik und internationale Koordinierung eine wichtige Rolle bei der Beschleunigung dieses Prozesses spielen. Zum Glück hat die Politik derzeit einen starken Anreiz, die nötigen Schritte zu ergreifen. Doch ob ihr Gefühl der Dringlichkeit Bestand haben oder wieder nachlassen wird, wenn das empfundene Bedrohungsniveau zurückgeht, bleibt abzuwarten.

Übersetzung: Jan Doolan