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Warum wir Forscher Putin die Stirn bieten müssen

Von Daniel Green

Gastkommentare
Daniel Green ist Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Rechtslinguistik. Er studierte Anglistik, Amerikanistik, Geschichte und Rechtswissenschaften.
© Robert Wählt

Es gibt keinen Konflikt, der nicht auf dem Parkett der Diplomatie geregelt werden könnte. Es ist noch nicht zu spät, zu einer friedlichen Einigung für die Ukraine zu gelangen.


Die Lage in der Ukraine ist ernst, und wir sind der Kriegsgefahr nahe, sehr nahe, um genau zu sein. Die Russische Föderation wird einen befürchteten Nato- oder EU-Beitritt der Ukraine niemals akzeptieren, da der Westen damit gefährlich close to home wäre. Der Westen wiederum wird den Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine nicht akzeptieren. Es geht um die Durchsetzung geopolitischer Interessen, darum, wer wo wie warum welchen Einfluss geltend machen will und dürfen soll. Krieg ist weder schön noch sauber, Krieg ist ein schmutziges, ekelhaftes Geschäft, das die internationale Gemeinschaft immer wieder vor vollendete Tatsachen stellt.

Zwischen Wien und Kiew liegen etwa 1.300 Kilometer. Zum Vergleich: Nach London sind es 1.500 Kilometer. In Österreich ist man teils sehr vorsichtig, Stellung zu beziehen. Vereinzelt wird das, was in Kiew, Charkiw und anderen Städten geschieht, noch als "Ukraine-Krise" bezeichnet - ein Euphemismus. Nein, es ist keine Krise mehr, es ist Krieg. Es ist Wladimir Putins Krieg.

Der Staat der Russischen Föderation (nicht: "die Russen") ist unter Missachtung des Völkerrechts in der Ukraine einmarschiert. Es wäre möglich gewesen, eine ehrenvolle Einigung zwischen den Konfliktparteien zu erzielen, doch Putin wollte keinen Frieden, er wollte Krieg. Seitdem gehen Bilder um die Welt von Menschen, denen man eine Waffe in die Hand drückt, um ihre Heimat gegen die Aggressoren zu verteidigen, von Menschen, die kaum ausgebildet für den Häuserkampf eingesetzt werden sollen. Menschen fliehen und kommen am Wiener Hauptbahnhof an.

Menschen, die von den beiden Staaten als wehrfähige Männer konstruiert werden, wird aufgetragen, loszumarschieren, anzugreifen oder zu verteidigen, je nachdem, auf welcher Seite sie stehen. Sind Menschen, die nicht bereit sind, auf andere zu schießen, "Verräter"? Wie mit russischen und ukrainischen Staatsbürgern umgehen, die nicht dazu bereit sind, der alten Lüge Glauben zu schenken, dass es "süß und ehrenvoll" sei, "fürs Vaterlands zu fallen"? Nein, Deserteure beider Seiten sind keine Verbrecher, sie folgen ihrem Gewissen oder wollen ihre Lieben in Sicherheit bringen. Welcher Soldat kann über einen Deserteur richten? Die Welt hat genug Befehlsempfänger.

Es gibt keinen Konflikt, der nicht auf dem Parkett der Diplomatie geregelt werden könnte. Es ist noch nicht zu spät, zu einer friedlichen Einigung zu gelangen, einer Einigung, die beiden Seiten erlaubt, das Gesicht zu wahren und ihre Toten in Würde zu bestatten. Was wäre die Alternative? Krieg als Dauerzustand? Schon jetzt muss sich Europa mit der unbequemen Frage der durch den derzeitigen Kriegszustand entstehenden Fluchtbewegung beschäftigen.

Westliche Werte verteidigen

Unmittelbar nach Kriegsbeginn hat die Österreichische Gesellschaft für Rechtslinguistik beschlossen, Einladungen an ukrainische Forscherinnen und Forscher sowie deren Familien auszusprechen. Eine Einladung, die mittlerweile auf alle Ukrainer ausgeweitet wurde und hier ausdrücklich wiederholt wird. Jede und jeder soll im eigenen Wirkungsbereich tun, was getan werden kann, um Menschen, die den Gräueln des Krieges entkommen wollen, ein Leben in Frieden und Sicherheit zu gewährleisten.

Es geht auch darum, unmissverständlich zu signalisieren, dass die internationale Gemeinschaft gerade im Kriegsfall das Prinzip menschlicher Solidarität hochhalten muss - unabhängig davon, wie dieser Krieg ausgeht. Es geht nicht um Ukrainer oder Russen, es geht um Menschen. Kain! Wo ist dein Bruder Abel? Es geht nicht immer darum, auf welcher Seite man als Einzelperson steht. Angesichts der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Russischen Föderation (willkürliche Verhängung von Haft, Folter, gezieltes Töten von Regimegegnern, faktisch nicht mehr vorhandene Pressefreiheit und vieles mehr) ist es gut und richtig, dass der Westen Werte wie Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verteidigt.

Als Forscherinnen und Fürscher sind wir international gut vernetzt. Eine Kollegin schrieb bei Ausbruch des Krieges vor einer Woche nach Wien: "Im Moment breitet sich die Panik sehr schnell aus, und die Zivilbevölkerung in vielen Städten ist geschockt. Ich kenne viele Menschen, die vom Krieg betroffen sind. Wie du weißt, komme ich aus der Region Donezk, und die russischen Aggressionen begannen dort schon vor acht Jahren. Jetzt hat das Ausmaß der Gewalt ein beispielloses Ausmaß erreicht." Und: "Auch meine jüngere Schwester weigert sich zu fliehen. Ich habe die ganze Nacht geweint, ich habe Angst um all diejenigen, die trotz Lebensgefahr dort bleiben wollen. Ich kann einfach nicht mehr klar denken."

Putins Propaganda hat inzwischen auch Österreichs Universitäten erreicht. Ein Kollege erkannte vor kurzem die selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk an, bezeichnete die dortige ukrainische Bevölkerung als "gewaltbereite Ultranationalisten und Minderheitenpeiniger" und rief zur Neutralität von Universitätsangehörigen auf. Nein, wenn das Gewissen es uns auferlegt zu sprechen, dürfen wir nicht schweigen. Putins Krieg ist ein Verbrechen, das die schärfste Verurteilung verdient.

"Wir gegen sie" ist aber gar nicht so klar abgrenzbar, wie sich Machtpolitiker und Kriegstreiber das gerne wünschen. Wie müssen sich Menschen in der gegenwärtigen Situation fühlen, die Angehörige beider Konfliktparteien zu ihrer Familie zählen - immerhin war die Ukraine bis 1991 eine der Unionsrepubliken der UdSSR. Ist es nicht selten der Umstand, auf welcher Seite der Grenze man geboren ist, der bestimmt, wer auf wen schießen muss?

Das macht die Betrachtung des Völkergewohnheitsrechts und der völkerrechtlichen Verträge so interessant - auch aus rechtslinguistischer Sicht -, denn das Völkerrecht ist verkürzt gesprochen nichts anderes als hartgewordene Außenpolitik. Oft sind völkerrechtliche Verträge das, auf was man sich einigen konnte und musste, weil es eben keine andere Lösung gab. Oft - nicht immer - sind völkerrechtliche Verträge das Ergebnis gegenseitigen Gesichtwahrens. Wenn das der Preis für den Frieden ist, sollten der Westen und die Russische Föderation bereit sein, ihn zu bezahlen.

Denken wir an die Menschen

Wenden wir uns einen Augenblick von der internationalen Politik ab, lassen unsere Forschung für einige Minuten ruhen und wenden uns dem Leid zu, das Putin über die Menschen in der Ukraine gebracht hat:

Denken wir an alle Menschen in der Ukraine und in Russland.

Denken wir an alle, die Angst um ihre Lieben haben.

Denken wir an alle, die nun Macht über Leben und Tod haben - mögen sie für sich und andere stets das Leben wählen.

Denken wir an alle, die den Krieg gewählt haben - mögen sie von ihrem todbringenden Unterfangen ablassen.

Denken wir an alle, die geflohen sind - mögen sie Schutz und Zuflucht auch in unserer Mitte finden.

Arbeiten wir gemeinsam am Frieden, auch wenn das für manche von uns heißt, schmerzvoll zu vergeben.

Verweigern wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschafter dem Militär geschlossen unsere Fähigkeiten und denken wir an unsere Verantwortung für die große Familie der Menschheit, der wir alle angehören.