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Der Krieg und seine zivilen Opfer

Von Werner Stanzl

Gastkommentare
Werner Stanzl ist Publizist und Dokumentarfilmer.
© Barbara Stanzl

Wer den Kampf um Wien 1945 miterlebt hat, weiß, was Kiews Bevölkerung noch bevorsteht.


Wien 1945, Kiew 2022 - und einmal mehr nervt die Logik des Krieges mit ihren Reprisen. Wieder das endlose Ausharren in Luftschutzbunkern, die monotonen Gebete alter Frauen rechts und links auf den Bänken. Der gelegentliche Aufschrei eines Säuglings weiter hinten im Gewölbe. Das dumpfe Grollen ferner Kanonen. Das Rieseln des Sandes von der Decke in der Schreckstarre nach einem Einschlag im Haus nebenan. Oder war es das Haus gegenüber? Und endlich, auf einen vagen, stummen Wink hin, die ersten Schritte in eine Welt nach dem Inferno.

Vor dem mächtigen Portal des Spitals zwei tote Soldaten. Dem Hörensagen nach exekutiert, weil sie sich ins Krankenhaus verdrücken wollten. Zeilen von Ruinen weiter die Trümmer des Doms. Drei Tage nach dem verheerenden Brand rauchen sie noch immer. Auf dem Platz davor in Scherben der Stolz einer Generation von Glockengießern. Ein plötzlich aufkommender Wind treibt eine Staubwolke vor sich her, verdeckt den Bombenkrater der Oper mit dem in der Glut verformten Gestänge der Bühnentechnik. Auf städtischen Freiplätzen werden Leichen gestapelt, um sie baldmöglichst in diversen Beserlparks zu begraben. Tausendfache Ängste nehmen den Müttern den Atem. Noch heute spüre ich die Angst der meinen, die sich über ihre Hand auf mich übertrug wie über eine Nabelschnur. Und keine überzeugenden Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Hauens und Stechens.

Was Wunder, dass diese Frage mit uns Zeitzeugen heranwuchs zur Überzeugung, dass das Überleben mehr zählt als das Sterben fürs Vaterland. Nur das Überleben beinhalte die Chance auf Veränderung, Tote könnten nicht mehr gestalten. Die Sinnlosigkeit des Korea-Kriegs, das tragische Ende des Ungarn-Aufstands 1956 bestärkte unseren Glauben an passiven Widerstand als Konfliktlösung. Vielleicht war dies die Grundsteinlegung zur späteren 68er-Bewegung, der Brutkasten der Hippieära, die Zündschnur zu den Demos gegen den Vietnam-Krieg und einer der vielen Faktoren für die Gewaltlosigkeit beim Fall der Berliner Mauer. "Schwerter zu Pflugscharen!" War das nicht das Bekenntnis unserer Parallelgeneration in der DDR?

Das alles erstickt aktuell in der Bewunderung des Widerstands der Ukrainer. Das "Viel Feind, viel Ehr", mit dem die Nazis 1941 den Kriegseintritt der USA quittierten, macht Präsident Wolodymyr Selenskyj zum Medienstar. Dass eben noch die Weiterführung des Krieges über die Grenzen der Aussichtslosigkeit hinaus Hitlers Generälen als Verbrechen angerechnet wurde: Schwamm drüber.

Nicht hinterfragt wird die Frage, mit welchem Recht Selenskyj und sein Team alle 18- bis 60-Jährigen in eine Art Volkssturm zwängen. Sollte nicht die europäische Errungenschaft, die Bedenkenträger vom Dienst mit der Waffe befreit, auch und gerade für die Ukraine gelten, die sich unserem Europa anschließen will? Soll zur Sprachübung verkommen, was wir als 16-Jährige mit Begeisterung für den Inhalt übersetzten? "Iniquissima pax melior est quam iustissimum bellum." - "Der ungerechteste Frieden ist immer noch besser als der gerechteste Krieg", so Marcus Tullius Cicero als Konsul 63 v. Chr.