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Österreichs sicherheitspolitisches Dilemma

Von Nikolaus Scholik

Gastkommentare
Nikolaus Scholik ist Senior Advisor am Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES). Er war Milizoffizier sowie in der Privatwirtschaft tätig und hat Politikwissenschaft studiert.
© privat

Die Neutralität im Lichte des russischen Angriffs ohne Kriegserklärung auf die Ukraine.


Unisono - mit Ausnahme der Neos - haben am Montag Bundeskanzler, Europaministerin und die anderen Parteivorsitzenden im Rahmen der wieder einmal aufgekeimten Diskussion um Österreichs Neutralität eisern an dieser festgehalten. Österreich ist neutral und bleibt neutral - militärisch natürlich, schränkt der Kanzler ein, und so wie der Außenminister betont er, dass wir in unserer Haltung und bei den Werten keine Neutralität kennen, sondern fest auf dem Boden des Völkerrechts stehen. Da müsste man eigentlich als gelernter Österreicher antworten: "No na."

Leider genügt aber dieses Splitting nicht. Leider müssen wir heute, in einer für Europa nach 1945 neuen sicherheitspolitischen Lage diese unsere Haltung und Sicht hinterfragen. Beginnen muss man aber diese Diskussion mit der Feststellung, dass Neutralität per se selbstverständlich ein taugliches Instrument für kleine Staaten darstellt, ihre Unabhängigkeit zu erklären und deren Akzeptanz (= ihre Sicherheit) durch die Staatengemeinschaft nicht nur zu bestätigen, sondern in allen Lagen zu respektieren.

Was uns nun die jetzige Situation mit einem brutalen, nicht einmal erklärten, sondern einfach erfolgten Angriffskrieg ohne Anlass lehrt (wieder einmal in der Geschichte), ist die Erkenntnis, dass eben dieser Wunsch nach Respekt und Einhaltung der Regeln des Völkerrechts bezüglich der Sicherheit eines Staates einfach außer Kraft gesetzt werden kann und wird. Klar ist auch, dass im Moment des ersten militärischen Eindringens aufs Staatsgebiet eines Neutralen dessen Status der Neutralität erlischt - die erste Angriffshandlung auf sein Territorium stellt ihn damit vor die Wahl, entweder seine Sicherheit zu verteidigen oder zu kapitulieren. Der Neutrale muss also rechtzeitig und in entsprechendem Ausmaß Sicherheitsvorkehrungen treffen und bereithalten.

Neben dem Wunsch nach einem neuen Zeitalter des Friedens in Europa - nun sichtbar aufgehoben durch den russischen Angriff auf die Ukraine - müssen wir aus politikwissenschaftlicher Sicht ein weiteres Element in die Beurteilung und Betrachtung der Sicherheit eines Neutralen (oder jedes Staates) einbringen: seine Geografie. Damit ist im Sinne Halford Mackinders der Einfluss der geografischen Gegebenheiten gemeint, die ja im Gegensatz zu vielen anderen staatspolitisch zu beachtenden Kriterien stabil und unveränderbar sind. Sie bestimmen also, welche Politik ein Staat machen kann oder muss, vor allem auch im sicherheitspolitischen Bereich.

Veränderte Militärgeografie

Diese Geografie zeigte 1955, zum Zeitpunkt des Moskauer Memorandums, das unter anderem Österreichs Bekenntnis zu dauerhafter Neutralität "nach dem Muster der Schweiz" beinhaltete, völlig andere äußere Gegebenheiten als heute. Die direkte Grenze zu zwei Warschauer-Pakt-Staaten (Tschechoslowakei, Ungarn) sowie die durch den westlichen Teil des Landes bedingte Zweiteilung der extrem wichtigen Nato-Nord-Süd-Verbindung (Deutschland, Italien) stellten politisch und militärisch äußerst schwierige sicherheitspolitische Existenzgrundlagen dar.

Diese militärgeografische Gegebenheit, die sich ab 1989/90 (Implosion der Sowjetunion, Auflösung des Warschauer Paktes) rasch änderte, verlangte zunächst, eben bis zu dieser Änderung, der Maxime "Muster Schweiz" nach, externe sicherheitspolitisch-militärische Vorbereitung und Stärke. Wie die Republik damit umgegangen ist, kann als hinlänglich und allgemein bekannt vorausgesetzt werden: "Sicherheitspolitischer Trittbettfahrer" ist noch eine der schmeichelhafteren Beurteilungen, der nichts hinzuzufügen ist. Das darf aber keinesfalls der Politik beziehungsweise den Parteien alleine angelastet werden. Das österreichische Volk hat mehrheitlich, wissentlich und willentlich oftmals diesen Kurs gebilligt, ja gut geheißen.

Heute ist das sicherheitspolitische Umfeld nun ein völlig anderes: Österreichs hatte nach der Wende plötzlich keine direkte Grenze mit Russland beziehungsweise dem ehemaligen Warschauer Pakt. Es ist nun von sechs Nato-Staaten und zwei Neutralen (ganz im Westen) umgeben. Das bedeutet, dass ein militärisches Vorgehen Russlands in Richtung Westen - nach Herrn Putin sicher dann möglich, wenn Russland vom Westen bedroht würde, also jederzeit - direkt auf die Nato träfe. In diesem Fall können die Neutralen (Österreich, Schweiz, Liechtenstein) auf die Stärke und Sicherheit der Nato bauen.

Mitverantwortung für die Union

Das ist grundsätzlich legitim. Ob wir allerdings - im Gegensatz zu den Jahren bis 1989/90 - moralisch und mit Anstand unsere Sicherheit von Deutschland, Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Rumänien, Kroatien, Slowenien und Italien verteidigen lassen und selbst nach wie vor militärisch neutral bleiben und abwarten - nun, hier beginnt die Sache moralisch etwas komplizierter zu werden. Dazu kommt, dass die diesbezügliche Frage der EU-Mitgliedschaft, die - natürlich unter Berücksichtigung der Neutralität - eine Mitverantwortung für die Union in allen Bereichen, also auch militärisch, beinhaltet, ebenfalls gestellt werden muss.

Das sollte und müsste man diskutieren, in der Politik und in der Öffentlichkeit. Kommentatoren und Journalisten sowie einzelne Politiker (als "Privatmeinung") beginnen dies zu tun - und die offizielle Politik? Die Debatte ist jedenfalls richtig und notwendig. Die Mitgliedschaft in einer Union kennt Rechte und Pflichten. Die Frage der Sicherheit der einzelnen Mitglieder wie der gesamten Union hat also mit Verantwortung und vor allem auch Pflichten zu tun. Und letztlich auch mit nationaler Anständigkeit.