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Ein anderes Europa

Von Paul Schmidt

Gastkommentare
Paul Schmidt ist Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE).
© ÖGfE

Die russische Aggression gegen die Ukraine verändert die Europäische Union.


Am 24. Februar ist Europa in einer neuen Welt aufgewacht. Die russische Invasion in der Ukraine ist eine Zäsur für Europa. Ein Augenöffner. Für das Friedensprojekt der Europäischen Union ist sie die einschneidendste Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg, die härteste und größte Herausforderung seit ihrer Gründung, und sie bringt schon jetzt bemerkenswerte Veränderungen mit sich. Es ist der Kampf zwischen Frieden und Krieg, zwischen Demokratie und Autokratie, der Europas Länder zusammenrücken und entschlossen reagieren lässt. Er ist ohne Alternative.

In nur einer Woche hat die EU mit ihren Alliierten umfassende Sanktionen gegen Russland auf den Weg gebracht; über die Sanktionsmaßnahmen gegen den Iran wurde jahrelang diskutiert. Das Paradoxon, dass die EU ein wirtschaftlicher Riese, aber ein politischer Zwerg ist, wird dieser Tage zu Grabe getragen. Das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft ist klar ersichtlich. Die geopolitische Union ist aus der Taufe gehoben. Europa finanziert und organisiert erstmals Waffenlieferungen und rüstet militärisch auf. In Kriegs- und Katastrophenzeiten sind die gern leidenschaftlich geführten Debatten um fiskalpolitische Reformen Makulatur. Exkurse in Sachen strategische Unabhängigkeit sind nicht mehr Sonntagsreden vorbehalten, sondern dringende Notwendigkeit, um weiter an der Sanktionsschraube drehen und die Versorgungssicherheit in Europa gewährleisten zu können. Mit weitreichenden Folgen. Während der Beschleunigung der wirtschaftlichen Transformation im Kampf gegen die Klimawende das Wort geredet wird, erwägt etwa Deutschland, seine Energiewende zu verschieben und Atomkraftwerke nicht vom Netz zu nehmen.

Fragen der europäischen Solidarität erhalten eine gänzlich neue Bedeutung. Wurden sie bis dato etwa in Tschechien und Polen oft als moralische Überheblichkeit und Einmischung in nationale Angelegenheiten wahrgenommen, ist gemeinsame, humanitäre Hilfe für Millionen von Geflüchteten, die die EU aktuell vor allem über die polnische Grenze erreichen, nun zur sprichwörtlichen Überlebensfrage geworden. Selbiges gilt auch für die militärische und sicherheitspolitische Zusammenarbeit, die energiepolitische Versorgung und die wirtschaftlichen Kosten, die die EU-Länder aufgrund der zu erwartenden Preisanstiege zu schultern haben werden. Die EU wird hierbei das Vehikel für finanzpolitische Ausgleichszahlungen sein, mit dem Ziel, die sozialen Folgen der russischen Aggression gegen die Ukraine für Europa zu dämpfen und die Mehrausgaben zu teilen. Der Corona-Wiederaufbaufonds könnte hierfür Vorbild sein, um Verteidigungsausgaben, die Kosten der Wirtschaftssanktionen und den sozialen Zusammenhalt zu finanzieren.

Nicht alle beschlossenen Sanktionsmaßnahmen wirken unmittelbar. Sie brauchen Zeit, um ihr volles Potenzial zu entfalten. Sie brauchen insbesondere eine nachhaltige Geschlossenheit. Der europäische Zusammenhalt wird jetzt zur Existenzfrage für Europa, zur Probe aufs Exempel. Dafür braucht es einen langen Atem. Europa lernt schnell, sein geopolitisches und wirtschaftliches Potenzial voll ausspielen zu können. Wer Europa unterschätzt, wird überrascht sein.