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Eine Stadt im Werden?

Von Rudolf Scheuvens

Gastkommentare
Rudolf Scheuvens ist Dekan der Fakultät für Architektur und Raumplanung an der Technischen Universität Wien.
© TU Wien

Der autodominierte 22. Bezirk in Wien erlebt einen tiefgreifenden Transformationsprozess. Ein langer Atem ist gefragt.


Wer mit der U2 von der Wiener Innenstadt in die Seestadt Aspern fährt, kann den baulichen Prozess der Stadtentwicklung fußfrei beobachten. Vielerorts drehen sich Kräne, heben sich Gebäude aus dem Boden, verändert sich der Horizont. Der Maßstab und die Prägung des ursprünglich Vorhandenen wird Gebäude um Gebäude, Quartier um Quartier verändert. Tiefgreifend und wirkungsvoll. So hat sich die Einwohnerzahl der Donaustadt seit 1951 von 53.000 auf aktuell rund 195.000 fast vervierfacht. Ausgehend von dörflichen Strukturen ist die Donaustadt der wachstumsstärkste Bezirk Wiens und hat, bezogen auf die Einwohnerzahl, mittlerweile das Ausmaß einer österreichischen Großstadt erreicht.

Der Wohnungsbau ist zweifellos einer der treibenden Kräfte in diesem tiefgreifenden Transformationsprozess. In den kommenden Jahren sollen hier Wohnungen für weitere rund 60.000 Menschen entstehen, vorwiegend im geförderten Segment, was wesentlich erscheint, um über die quantitative Bereitstellung von Wohnraum hinaus auch dämpfend auf die Mietenentwicklung in Wien einwirken zu können.

Vor unseren Augen wächst so ein Raum heran, der wenig mit dem zu tun hat, was wir aus der Wiener Kernstadt kennen. Hier stehen Einfamilienausgebiete neben Großsiedlungen, Gartenbaubetriebe neben U-Bahnstationen und Gewerbeparks neben Einkaufszentren und Badeteichen. Aus diesem Umgang mit dem Raum resultieren die heutigen Verhältnisse zwischen erkennbaren planerischen Absichten und pragmatischen Überlegungen. Hieraus resultiert aber auch die ausgeprägte Autodominanz im Verkehrs- und Mobilitätssystem - ob uns dies gefällt oder nicht. Es ist (leider) der Alltag in der Donaustadt.

Dringend notwendiger Paradigmenwechsel

Über Jahrzehnte entwickelten sich die Siedlungen der Donaustadt an den wenigen großen Einfallstraßen, die die Peripherie und den Speckgürtel mit der Kernstadt verknüpften. Der koordinierte Ausbau des Öffi- und des Radwegenetzes hat erst in den vergangenen beiden Dekaden an Bedeutung gewonnen. Zumindest auf der kommunalen Ebene. So hat sich die Autoorientierung jahrzehntelang tief in die Alltagskultur der Donaustadt und der Region eingeschrieben - was sich bezogen auf künftige Entwicklungen als Herausforderung eines dringend notwendigen Paradigmenwechsels herausstellt.

Am linken Donauufer entwickelte sich so ein besonderer Typ einer autoorientierten Zwischenstadt, die nach anderen Mustern gestrickt ist als das Zentrum der Stadt. Dies macht es auch so ungemein schwierig, das Ruder mal eben herumreißen zu wollen. Das Unbestimmte und das Deutungsoffene dieses Raumes sind seine besonderen Eigenheiten - und zugleich auch seine Herausforderungen. Dies vor allem dann, wenn die Ziele der Entwicklung unscharf sind und eine leitende Vision für die Entwicklung fehlt. Dann erwächst aus der Offenheit schnell eine Beliebigkeit, wie der Rückblick auf die vergangenen Entwicklungen vielfach zeigt.

Eine Gesamtperspektive ist nötig, um die anstehenden Entwicklungen der Donaustadt mit einer leitenden Raumvision zu verknüpfen. Dies war Gegenstand eines breit angelegten Planungsprozesses, der 2013 stattfand. Unter der Überschrift "Wo willst Du hin, meine Donaustadt?" wurden die Rahmenbedingungen und die unterschiedlichen Erwartungshaltungen an die Entwicklung des 22. Bezirks abgesteckt. Mehrere öffentliche Veranstaltungen wurden zur Reibfläche kritischer und auch sehr kontrovers geführter Diskurse. Zu neuen Quartieren und Stadtteilzentren ebenso wie bezogen auf die Sicherung und Entwicklung von Freiräumen oder auf den Ausbau des Verkehrsnetzes. Es war ein intensiver, herausfordernder, aber auch lohnender Prozess, in dem sich viele Bürger aktiv eingebracht haben.

Wandel des Verkehrssystems und der Mobilitätskultur

Strittig bereits damals war die Stadtstraße, deren Sinnhaftigkeit teilweise vehement in Frage gestellt wurde. Aber es gab auch jene, die sich diese Straße herbeigesehnten. Sie verknüpften dieses Vorhaben mit der Erwartungshaltung einer nachhaltigen Verkehrsentlastung der Bestandsgebiete - vor allem der stark vom Autoverkehr belasteten alten Ortskerne. Allerdings: Von alleine stellt sich eine solche Entlastungswirkung nicht ein. Sie ist nur dann zu erwarten, wenn der Durchfahrtswiderstand in den alten Ortskernen deutlich erhöht und der Ausbau des Umweltverbundes nachhaltig forciert werden - so die Erkenntnisse und Forderungen aus dem Jahr 2013, die sich dann auch in den Zielsetzungen des Strategieplanes niedergeschlagen haben.

Seither sind fast neun Jahre vergangen. Schnell voran ging es bei den Wohnbau- beziehungsweise Stadtteilprojekten. Die Seestadt Aspern ist mittlerweile in Teilen realisiert, das Entwicklungsgebiet Hausfeld Nord befindet sich ebenso in der Warteschleife wie die Entwicklung der Berresgasse. Insgesamt sind es Wohnungen für rund 60.000 Menschen (zuzüglich gewerblich zu nutzender Flächen), die erst dann in die Umsetzung gehen können, wenn die entsprechenden Vorgaben erfüllt sind. Einige Entwicklungen hängen dabei an der Entwicklung der Stadtstraße, andere an einer noch fehlenden sozialen Infrastruktur.

Mit Blick auf die Forderungen nach einem umfassenden Mobilitätskonzept wurde seitens der Stadt schon einiges in die Wege geleitet (was den weiteren Ausbau der U2-Stationen betrifft) beziehungsweise ist in Vorbereitung (etwa die Verlängerung und Errichtung von Straßenbahnlinien) oder in Ausarbeitung (in Bezug auf das Radwegeprogramm). Vieles wurde schon getan, vieles ist aber auch noch zu tun. Daran besteht kein Zweifel. Der Weg zum Wandel des Verkehrssystems und der Mobilitätskultur in der Donaustadt benötigt halt einen langen Atem.

Im Streit um die Stadtstraße geht es inzwischen um mehr

Was aber fehlt, ist eine zusammenfassende und integrierende Übersicht aller Aktivitäten und Vorhaben, die hier bereits erfolgt sind oder noch erfolgen werden - beispielsweise im Rahmen einer Aktualisierung und Fortschreibung des Strategieplanes von 2013. So wird aktuell alles vom Bau der Stadtstraße überlagert. Die Fronten sind mittlerweile stark verhärtet. Aktivisten gegen Politik, Wissenschafter gegen Stadtplanung. Mittlerweile geht es um mehr als um das Für oder Wider eines Straßenbauprojektes. Immer lauter wird sogar die Forderung nach einem Stopp jeder weiteren baulichen Entwicklung in der Donaustadt. Die Zielkonflikte in einer wachsenden Stadt sind offensichtlich - und man mag ergänzen: nicht ungewöhnlich. Umso wichtiger sind klare politische Zielbestimmungen, die zur Basis des künftigen Handelns werden müssen.

Auch wenn die Wachstumskurve der Stadt Wien abflacht, so ist weiterhin davon auszugehen, dass zusätzlicher Wohnraum benötigt wird, will man nicht Gefahr laufen, dass die Schere zwischen Angebot und Nachfrage weiter auseinandergeht und die Kräfte des Marktes über den Preis wirksam werden - so wie wir dies aus vielen anderen europäischen Städten kennen. Die Stadt ist gut beraten, die Entwicklung kurz- bis mittelfristig stark auf jene Standorte zu konzentrieren, die bereits heute gut ins Infrastruktursystem eingebunden sind. Die Entwicklung der Seestadt Nord, aber auch des Hausfeldes mit ihren U-Bahn-Stationen sind solche Standorte. Daran kann kein Zweifel bestehen.

Wirkungsvolle Investitionen in den Umweltverbund nötig

Damit steht die Frage im Raum, wie es nun weitergeht. Es ist davon auszugehen, dass die Stadtstraße in die Umsetzung gehen wird. Bestimmend ist die Erwartungshaltung, dass damit eine spürbare und nachhaltige Entlastung des vorhandenen Verkehrsnetzes erreicht werden kann. Zu lange hat das Vorhaben auch schon die langwierigen Planungs-, Prüf- und Genehmigungsverfahren durchlaufen. Zu behäbig erscheint die notwendige Veränderung der Mobilitätskultur, um auch ohne die neue Straße eine kurz- bis mittelfristige Entlastung des vorhandenen Verkehrsnetzes und der alten Ortskerne erreichen zu können.

Aber: Die Stadtstraße kann und darf nicht isoliert gesehen werden. Und im Sinne des vorher Gesagten: Auch mit dem Bau der Stadtstraße bedarf es der wirkungsvollen Investitionen in den Umweltverbund. Erst recht, muss ergänzt werden. Allein schon aus dem Grund heraus, dass es hier nicht nur um eine kurzfristige Verlagerung von Verkehrsströmen gehen kann, sondern dass es um eine nachhaltige Reduktion des Kfz-Verkehrs und damit um eine Gesamtentlastung des Straßennetzes gehen muss. Hier decken sich die Ansichten der Stadt Wien mit jenen der Kritiker des Straßenprojektes. Geschieht dies nicht, sind die nächsten Verkehrskonflikte, trotz neuer Straße, programmiert. Der notwendige Paradigmenwechsel ist eingeleitet und hat durch die aktuellen Diskussionen und nicht zuletzt auch die Proteste zweifellos an Relevanz und Geschwindigkeit zugelegt.

Zurück an den Planungstisch

Wir müssen wieder zurück an den Planungstisch. Dies aber weniger im Sinne eines kompletten Neustarts als vielmehr in Richtung eines Weiterdenkens, eines Überprüfens und einer Konkretisierung der Strategieplanung zur Entwicklung der Donaustadt. Neben vielen Aspekten, etwa im Bereich der Zentrenbildung sowie der Freiraumsicherung und -entwicklung, wird sich der Fokus, über die Stadtstraße hinaus, auch auf die Entwicklung eines ganzheitlichen Mobilitätskonzeptes richten müssen - so wie dies bereits im Strategiekonzept aus dem Jahr 2013 gefordert wurde.

Die Herausforderungen sind groß, den begonnenen Transformationsprozess unter den sich verändernden Bedingungen und Zielsetzungen einer klimaresilienten Stadtentwicklung konsequent zu präzisieren. Bezogen auf den dringend nötigen Wandel der Mobilitätskultur im 22. Bezirk haben die aktuellen Diskurse aufgerüttelt. Notwendig wird die Schärfung der Zukunftsperspektiven. Die Menschen müssen aktiv an diesem Prozess teilnehmen und (Mit-)Verantwortung für ihre Stadt übernehmen können. Nur so kann das für den weiteren Entwicklungs- und Transformationsprozess nötige Vertrauen (wieder) hergestellt werden. Darüber sollten wir reden. Und daran sollten wir arbeiten.