Zum Hauptinhalt springen

Die großen Folgen eines lokalen Konfliktes

Von Johannes Schönner

Gastkommentare
Johannes Schönner ist Geschäftsführer des Karl von Vogelsang Instituts in Wien.
© Karl von Vogelsang Institut

Der sowjetisch-finnische "Winterkrieg" 1939/1940 - aktuelle Anmerkungen zu einer historischen Fehleinschätzung.


Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges entwickelte sich aus einem vermeintlich kleinen, lokalen Konflikt am Rande Europas ein folgenschwerer Krieg. Nur aufgrund der folgenden, noch katastrophaleren Ereignisse trat er, zumindest in seiner historischen Beurteilung, aus Sicht Mitteleuropas in den Hintergrund (wohl zu Unrecht). Für Finnland ist er bis heute allgegenwärtig und bestimmt die aktuelle Politik mit. Der "Winterkrieg" (oder sowjetisch-finnischer Krieg) vom 30. November 1939 bis 13. März 1940 hat bei näherer Betrachtung zahlreiche Erkenntnisse zu bieten.

Finnland war bis zum Ende des russischen Zarenreiches als Großfürstentum Teil Russlands, wurde danach ebenso von den Wirren des Bürgerkriegs und den folgenden Erschütterungen erfasst. Von Lenin zwar 1917 als unabhängiger Staat anerkannt, gab es vehemente Versuche der Bolschewiki und finnischer sozialistischer Kreise, marxistische Ordnungsvorstellungen in Finnland zu etablieren. Den folgenden jahrelangen Bürgerkrieg entschieden die bürgerlichen Kräfte unter Carl Gustav Mannerheim - nicht zuletzt mit deutscher Waffenhilfe - für sich.

Das Verhältnis zwischen Finnland und Sowjetrussland beziehungsweise der Sowjetunion blieb angespannt. Zudem hatten wechselseitige Gebietsforderungen um den Ladogasee und um Karelien direkte Auswirkungen auf die Sicherheitsüberlegungen der naheliegenden (Haupt-)Städte Helsinki und Petrograd (Leningrad). Finnland hatte sich vor 1917 immer erfolgreich gegen eine Russifizierung gewehrt und konnte eine kulturelle Identität bewahren. Im Land gab es jedoch eine (überschaubare) russische Minderheit, die der sowjetischen Seite stets die Möglichkeit einer offensiven Agitation bot. Das Argument von vermeintlichen Übergriffen auf eigene "Landsleute" im Ausland gehörte auch damals zum Kanon einer "konfrontativen Nachbarschaftspolitik".

Krieg ohne Kriegserklärung

Anfang der 1930er gab es mehrere Anläufe, die finnisch-russische Politik zu normalisieren, etwa einen Nichtangriffspakt 1932 und Freundschaftsverträge. Die Gräben, die der Bürgerkrieg und der "rote" und "weiße" Terror in Finnland selbst aufgeworfen hatten, waren jedoch lange nicht zu überwinden. Sozialistische und marxistische Kräfte in Finnland galten lange als Sowjet-Kollaborateure, während sich andererseits eine großfinnische Bewegung herausbildete und die autoritäre Lapua-Bewegung gute Beziehungen zu NS-Deutschland unterhielt.

Mit der Aufteilung Osteuropas nach dem "Molotow-Ribbentrop-Vertrag" 1939 war eine neue Situation eingetreten. Josef Stalin hatte freie Hand und griff bereitwillig zu. Das Baltikum, bereits nach dem Ersten Weltkrieg zwischen "Rot" und "Weiß" heftig umkämpft, wurde abermals Kriegsschauplatz, und die baltischen Freiheitsbestrebungen trafen auf russisch-sowjetische Vereinnahmung. Beide Seiten stellten Forderungen und gaben Angebote zur Kompensation, die jeweils abgelehnt wurden. Vermeintliche oder konstruierte Grenzzwischenfälle gaben Anlass zu weiteren Forderungen und Gesprächsabbrüchen.

Während die Weltöffentlichkeit zur Jahreswende 1939/1940 auf den "Sitzkrieg" zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich starrte, wurden an der finnisch-sowjetischen Grenze Tatsachen geschaffen. Ohne Kriegserklärung kämpften zahlenmäßig überlegene sowjetische Verbände Ende November 1939 grenznahe Verteidigungsstellungen der Finnen nieder. Doch schon sehr bald rannten sie sich fest. Die "Mannerheim-Linie" (Mannerheim hatte erneut den Oberbefehl über die Armee) verband den Ladogasee mit dem Finnischen Meerbusen. Obwohl das Kräfteverhältnis stellenweise 1:10 zugunsten der Sowjets stand, geschah das zu Beginn Unvorstellbare: Die Finnen trotzten heroisch dem Ansturm und nutzten taktische Schwächen des Feindes.

Streubomben auf Zivilisten

Die Sowjets, nach Stalins Säuberungen wenige Jahre zuvor zusätzlich geschwächt, vermochten nicht, ihre materielle Stärke auszuspielen. Die natürlichen Gegebenheiten sprachen für die Verteidiger. Beide Seiten warfen einander Kriegsverbrechen vor. Die sowjetische Luftwaffe bombardierte Helsinki mit Streubomben, der Blutzoll unter der Zivilbevölkerung war erheblich. Nun wurde auch der Westen hellhörig. Protestaktionen in den USA und Westeuropa folgten, ebenso Waffenlieferungen an die finnischen Verteidiger. Begleitet waren die westlichen Vergeltungsmaßnahmen von wirtschaftlichen Sanktionen gegen die UdSSR. Diese blieb bemerkenswerterweise vertragstreu und lieferte weiterhin Erz und Erdöl vor allem nach Deutschland und Westeuropa.

Der Krieg dauerte noch bis Mitte März 1940 und endete mit einem wahren Blutbad. Auf finnischer Seite gab es 70.000 Tote und Schwerstverletzte, die Verluste der Sowjets wurden nur geschätzt und waren wohl um ein Zigfaches höher. Vor allem an der "Mannerheim-Linie" rannten die Sowjets in Sturmangriffen zu Tausenden in den Tod. Der Mythos, Russland könne "opfern", während andere an die Grenzen ihrer Kräfte stießen, setzte sich einmal mehr fort. Schließlich mussten die Finnen dennoch um Frieden ansuchen, denn der Druck wurde zu groß. Beim Moskauer Friedensvertrag vom 13. März 1940 mussten die Finnen mit enormen Gebietsverlusten in Karelien und Mittelfinnland weit mehr abtreten, als die Sowjets ursprünglich vor dem Krieg gefordert hatten.

Die Folgen des "Winterkrieges" waren fatal: Zum einen folgten politische, aber auch militärische Fehleinschätzungen, die erst Monate und wenige Jahre danach sichtbar wurden. Die militärische Schwäche der Sowjetunion verleitete Adolf Hitler zu folgenschweren Fehlinterpretationen hinsichtlich der Schlagkraft der Roten Armee und zum Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 mit welthistorischen Konsequenzen. In der russischen Geschichtsschreibung ging es im "Winterkrieg" neben Sicherheitsinteressen, territorialen Ansprüchen und ökonomischen Aspekten auch um ideologische Hegemonie und - dieser Aspekt ist bei keiner Auseinandersetzung mit Russland zu vernachlässigen - um den Kampf gegen eine Einkreisung, "westliche Dekadenz" und den Faschismus.

Die öffentliche Meinung erlebte einen Wandel. Machte noch Anfang 1940 ein Weltgewissen mit Solidaritätsaktionen von London über Paris bis New York für den heroischen Freiheitskampf des "Opfers" Finnland gegen den Blutdiktator Stalin mobil, kehrte bald Realpolitik in die Staatskanzleien zurück. "Uncle Joe" wurde in den USA ab 1941 zum Propagandahelden aufgebaut, Finnland hingegen dem nationalsozialistischen Aggressor zugeordnet. Der "Winterkrieg" wurde zur Fußnote des Zweiten Weltkrieges.