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Täglich muss man damit rechnen, angeschossen oder entführt zu werden

Von Michael Rösch

Gastkommentare
Michael Rösch im Gespräch mit einem Patienten.
© Ärzte ohne Grenzen

Der erfahrene orthopädische Chirurg Michael Rösch berichtet über seinen Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen in Haiti.


Seit 22. Februar bin ich wieder für Ärzte ohne Grenzen auf Einsatz. Erneut in Haiti, im Unfallkrankenhaus Tabarre in Port-au-Prince. Es ist mein zweiter hier. Im Jahr 2020 war ich ebenfalls schon einmal da.

Nach beinahe drei Wochen wird es Zeit für eine kleine "témoignage", einen kleinen Zeugenbericht. Ärzte ohne Grenzen versucht damit, den Menschen, denen wir helfen, auch irgendwie eine Stimme in der Welt zu geben. Haiti hat dies dringend nötig. Vor meiner Abreise haben mir doch einige "viel Spaß im Karibikurlaub" gewünscht. Ernst gemeint. Es ist mir natürlich bewusst, dass meine E-Mail mancherorts mit Kopfschütteln empfangen wird. Jetzt, da die Ukraine in Flammen steht, der Krieg quasi vor unserer Haustür Menschen tötet, sich Millionen auf der Flucht in Richtung Westen befinden - wer will da noch etwas von Haiti wissen?

Michael Rösch ist Chirurg. Der Vorarlberger ist seit Mai 2019 Mitglied des Vorstandes von Ärzte ohne Grenzen.
© Ärzte ohne Grenzen

Ja, ich muss sogar zugeben: Nach dem ersten Bericht über den Krieg am 24. Februar habe ich mich zunächst selbst gefragt, ob ich hier nicht fehl am Platz bin. Als dann am Abend ein Neunjähriger mit Bauchschuss eingeliefert wurde, hatte ich keine Zweifel mehr: Dieser Bub hat genau dasselbe Recht auf unsere Hilfe wie jeder andere auf dieser Welt! Sein Leben hat denselben Wert wie das der Kinder in der Ukraine. Die Tränen der Mütter um ihre Kinder schmecken hier genauso bitte wie dort.

Der Kleine hat übrigens überlebt, es geht ihm schon recht gut.

Instabile politische Situation, Bandenkämpfe, sehr hohe Arbeitslosigkeit

Die politische Situation in Haiti hat sich seit der Ermordung des Präsidenten im Juli 2021 in keiner Weise stabilisiert, und die Sicherheitslage ist in Port-au-Prince in manchen Teilen noch dramatischer als vor zwei Jahren. Bandenkämpfe haben manche Viertel in Kriegszonen verwandelt. Eine funktionierende Polizei scheint es nicht zu geben. Die Regierung hat die UNO um Hilfe und ein Eingreifen gebeten. Die Arbeitslosenrate ist sehr hoch.

Der Haupteingang des Unfallkrankenhauses Tabarre von Ärzte ohne Grenzen in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince.
© Guillaume Binet / MYOP

Seit 2020 hat sich auch einiges in unserem Spital verändert. Das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen für Verbrennungen im Stadtteil Drouillard musste voriges Jahr nach mehrfachen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Banden rund um das Klinikgebiet schließen. Eine sichere Fortsetzung des Betriebs konnte nicht mehr gewährleistet werden, weshalb ein Teil der Kapazitäten zu uns nach Tabarre übersiedelt wurde. Teile unserer Verwaltung und anderer Funktionen wurden in freie Container im Garten verlegt, um für zwei OPs und circa 20 Betten Platz zu machen.

Unlängst wurde eine Siebenjährige mit einem Durchschuss beider Oberschenkel eingeliefert. Rechts war die große Beinarterie zerrissen, links der Oberschenkelknochen zerschlagen. Federica ist medizinische Direktorin der Verbrennungsabteilung. In Italien arbeitet sie allerdings als Gefäß- und Kinderchirurgin. Zu unserem Glück. So haben wir gemeinsam operiert. Federica hat die Arterie versorgt, und ich habe auf der anderen Seite den Knochen stabilisiert.

Die Arbeit selbst hat sich in den vergangenen zwei Jahren nicht sehr verändert. Es arbeiten hier nach wie vor 20 internationale Einsatzmitarbeiterinnen und -mitarbeiter und rund 250 haitianische Ortskräfte im Spital, das im Notfall über bis zu 70 Unfallbetten verfügt. Seit ich hier bin, hatten wir täglich zwischen drei und sieben Neuaufnahmen. Entsprechend unseren Aufnahmekriterien nur Patientinnen und Patienten mit offenen Frakturen oder Thorax- beziehungseise Abdominaltraumen. Davon sind etwa zwei Drittel Schuss- oder Stichverletzungen, der Rest durch Verkehrsunfälle verursacht. Sogenannte Freizeitunfälle habe ich hier bisher keine gesehen.

Perspektivlosigkeit und Kontrollverlust

Anfangs war etwas weniger los, und ich hatte Zeit und OP-Kapazität, um mich um "cas complique" zu kümmern: also fehlverheilte, nicht verheilte oder infizierte Frakturen. Darunter sind Menschen, die seit einem Jahr nicht mehr auf ihren Beinen gestanden sind. Ich frage mich, wie man in diesem Land so überleben kann. Offensichtlich existiert auch hier, trotz der katastrophalen Situation, ein soziales Netz. Auch hier gibt es Menschen, die solidarisch und füreinander da sind. Eines hat sich bei der Arbeit allerdings doch verändert. Die Stimmung im Spital ist deutlich gedrückter, manchen Kolleginnen und Kollegen scheint die Depression ins Gesicht geschrieben. Darauf angesprochen, sind auch einige bereit, darüber zu reden. Das völlige Fehlen von Perspektiven und der Verlust der Kontrolle über das eigene Leben machen allen zu schaffen. Täglich muss man damit rechnen, angeschossen oder entführt zu werden.

Das Spital ist spezialisiert auf Unfalltraumata und Verbrennungen. 
© MSF / Pierre Fromentin

Dann gibt es kein Benzin mehr, und du kommst nicht zur Arbeit oder kannst nicht, weil eine bewaffnete Bande die Straße gesperrt hat. Abends fällt der Strom aus, und für den Generator gibt es kein Benzin mehr. Eine endlos scheinende Kette von Unwägbarkeiten. Wer kann, geht ins Ausland. Einige Kollegen haben es geschafft, ihre Frauen mit den Kindern in den USA unterzubringen. Welche Perspektive sich daraus ergibt, ist ungewiss. Eine Arbeitsgenehmigung dort scheint unmöglich. Wann und wie dieser Albtraum zu Ende gehen wird, weiß niemand. Alle sind sich aber einig: Es ist wichtig und gut, dass wir da sind. Und ich habe wieder einmal das Gefühl, am rechten Ort zu sein.