Zum Hauptinhalt springen

Haben wir aus den Balkan-Kriegen gelernt?

Von Franz Schausberger

Gastkommentare

Der Nationalist Putin beruft sich ebenso wie einst Milošević auf weit zurückliegende historische Ereignisse.


Frappierend, wie geschichtlich einschneidende Ereignisse einander ähneln können. Beängstigend auch, dass so selten daraus gelernt wird. Auch wenn zwei historische Ereignisse niemals gleich sind, könnte man mit einen Blick in die Vergangenheit durchaus aktuelle Vorgänge besser beurteilen und Handlungsweisen ableiten. Dabei müsste man im Fall von Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine gar nicht bis auf Adolf Hitler und Josef Stalin zurückgreifen. Man stößt schon in der jüngeren Geschichte etwa auf Slobodan Milošević, einen ganz ähnlich gestrickten, nationalistischen Autokraten, wie es der russische Präsident nicht immer war, aber heute ist.

Vor 30 Jahren, am 26./27. August 1992, während des Kroatien- und Bosnien-Krieges, fand die Londoner Konferenz zum ehemaligen Jugoslawien statt. Sie zielte hauptsächlich auf den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Minderheiten ab und richtete sechs Arbeitsgruppen ein, die in Genf tagen sollten. Während in London verhandelt wurde, wurden in Sarajevo Zivilisten beschossen, die eine Gefechtspause zum Einkaufen nutzten. Erinnert das nicht an aktuelle Berichte über russische Angriffe auf vereinbarte Korridore zur Evakuierung der Zivilbevölkerung?

Am 7. September 1992 fand in Genf die erste Verhandlungsrunde mit Vertretern der bosnischen Regierung, der Serben und der Kroaten statt. Es ging vor allem um die Sicherheit der Versorgungsstraßen und Luftwege nach Sarajevo. Wenige Tage zuvor hatten die Truppen des bosnischen Serben-Führers Radovan Karadžić ein italienisches Hilfsflugzeug kurz vor der Landung abgeschossen. Eine Einigung wurde nicht erzielt, weil die bosnischen Serben ihre schweren Geschütze nicht zurückziehen wollten und den Krieg auch während der Verhandlungen fortsetzten. So wie das heute die russischen Truppen während der Verhandlungen mit der ukrainischen Delegation tun. Die Stadt Sarajevo stand damals seit 1.246 Tagen unter serbischer Belagerung.

"Groß-Serbien" und "Groß-Russland"

Die Nationalisten Milošević und Putin beriefen beziehungsweise berufen sich beide auf weit zurückliegende historische Ereignisse. Milošević , Präsident der jugoslawischen Teilrepublik Serbien, wollte ein "Groß-Serbien", Putin will wieder ein "Groß-Russland" zumindest wie zu Stalins Zeiten. Miloševićs Bezugspunkt war die Schlacht auf dem Amselfeld vom 28. Juni 1389, also vor damals 600 Jahren (!), bei der die Serben eine katastrophale Niederlage gegenüber den "gottlosen" Osmanen hinnehmen mussten. Seine nationalistische Rede am 28. Juni 1989 zum 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld wurde von vielen als Funke für den später ausbrechenden Krieg auf dem Westbalkan angesehen.

Milošević erklärte damals, die Zeit der Erniedrigung Serbiens sei nun abgelaufen. Sechs Jahrhunderte später befinde sich Jugoslawien wieder in Kriegen und werde mit neuen Schlachten konfrontiert. Dies seien keine bewaffneten Schlachten, obwohl solche nicht ausgeschlossen werden könnten. Mit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts ging der Kommunismus als verbindendes Element sowohl des Sowjet- als auch des Tito-Reiches verloren, weshalb Milošević die neue Ideologie eines "Groß-Serbien" schuf. Zwei Jahre später begann auf dem Gebiet Jugoslawiens der schlimmste Krieg auf europäischem Boden seit 1945.

Es dauerte bis November 1995, bis der Krieg in Bosnien-Herzegowina durch den Vertrag von Dayton beendet werden konnte. Für das Ende des Konflikts im Kosovo bedurfte es eines umstrittenen, mehrmonatigen Luftkriegs der Nato gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) im Jahr 1999. Alles das ist heute schon wieder weitgehend vergessen, was gefährlich ist, weil es durchaus zu einer realistischeren politischen Beurteilung der aktuellen kriegerischen Ereignisse in der Ukraine beitragen könnte. Denn es gibt - bei allen Unterschieden - doch wichtige Parallelen.

Putins falsche Geschichtsauslegung

Die aktuelle Russland-Ukraine-Krise eskalierte nicht zuletzt durch eine Rede Putins am 21. Februar, in der er die Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ostukraine ankündigte und feststellte, dass die moderne Ukraine vollständig vom bolschewistischen, kommunistischen Russland geschaffen worden sei. Dass die Ukraine innerhalb der Sowjetunion den Status einer eigenen Republik erhalten hatte, bezeichnete Putin als "schlimmer als einen Fehler".

Seine Argumentation ist freilich insofern falsch, als schon vor der Einnahme durch die Rote Armee 1920 für etwa zwei Jahre ein eigenständiger ukrainischer Nationalstaat - die ukrainische Volksrepublik - bestand. Auch in früheren Jahrhunderten gab es Phasen der ukrainischen Unabhängigkeit. Schließlich rechtfertigte Putin mit dieser falschen Geschichtsauslegung den aktuellen Angriff auf die Ukraine. Für ihn ist der Zerfall der Sowjetunion die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts", so wie Milošević die Auflösung Jugoslawiens unter der Vorherrschaft der Serben nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Die Parallelen sind unverkennbar.

Man ließ es 1992 zu, dass der Krieg munter weitergeführt wurde, während die Verhandlungen in Genf liefen, sodass die Serben großes Interesse hatten, die Gespräche so lange wie möglich hinauszuzögern, um möglichst ganz Bosnien-Herzegowina zu erobern. Der bosnische Serben-Führer Karadžić versprach, alle Konzentrationslager bedingungslos zu schließen, und bot an, seine gesamte schwere Artillerie unter UN-Aufsicht zu stellen. Gefragt, warum ihm die internationale Gemeinschaft die Ernsthaftigkeit seiner Vorschläge glauben sollte, sagte Karadžić: "Sie müssen mir einfach glauben." Fazit: Krieg gegen die anderen bosnischen Bevölkerungsgruppen, Massenvertreibungen, Kriegsverbrechen, das Massaker von Srebrenica. Weiteres Fazit: Karadžić wurde vom UN-Kriegsverbrechertribunal wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermordes zu lebenslanger Haft verurteilt.

Der zweite große Krieg in Europa nach 1945

Nach wochenlangen treuherzigen Versprechungen, keinen Einmarsch in die Ukraine zu planen, startete Putin heuer am 24. Februar den Krieg gegen die Ukraine. Nach den Balkan-Kriegen ist dies der zweite große Krieg in Europa nach 1945. Nachdem die ursprüngliche Strategie des raschen Durchmarsches kläglich scheiterte, scheint Russland heute ebenso die zähen Verhandlungen mit der Ukraine ohne konkrete Ergebnisse möglichst lange laufen lassen zu wollen, um sich noch weitere Gebiete einverleiben zu können. Auch die Angriffe auf die Zivilbevölkerung gehen weiter.

Der Westen hat sowohl vor als auch während der Jugoslawien-Kriege ebenso wie in den vergangenen Jahren in der Ukraine-Frage viele gravierende Fehler gemacht. Diese waren nicht die Ursache für diese Kriege, haben sie aber möglicherweise beschleunigt. Allerdings hatten die Entscheidungen dazu sowohl Milošević als auch Putin schon lange davor getroffen.

Jeden Tag steigt die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine. In der möglicherweise größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg werden bis zu zehn Millionen Flüchtlinge erwartet. Etwa zwei Millionen sind von ihrem Heimatort in eine andere Region der Ukraine geflüchtet, vielen bleibt nur der Weg in andere Staaten. Inzwischen sind schon an die vier Millionen vor den russischen Angriffen aus der Ukraine in andere Länder geflohen. Noch ist die Solidarität und Aufnahmebereitschaft gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen groß. Aber wie lange? Der Konflikt ist erst einen Monat alt. Ein lange andauernder Stellungskrieg in der Ukraine könnte das Mitgefühl und das Interesse am dortigen Geschehen schwinden lassen.

Flüchtlingsquoten wurden schon 1992 abgelehnt

Auch hier wäre wieder ein Blick auf die Balkan-Kriege vor drei Jahrzehnten lehrreich. Der Krieg zog sich über Jahre dahin. Im Gegensatz zur heutigen Situation der ukrainischen Flüchtlinge gab es damals einen erheblichen Mangel an Konsens unter den meisten europäischen Ländern. Im Juli 1992 führten die täglichen "ethnischen Säuberungen" in vielen Regionen des ehemaligen Jugoslawiens zu einer großen Flüchtlingswelle. Bis Ende Juli 1992 waren etwa 2,5 Millionen Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien vertrieben worden.

Die Mehrheit der Flüchtlinge, etwa 1,9 Millionen, blieb in den ehemaligen jugoslawischen Republiken. Ein deutscher Vorschlag, ein Quotensystem für die Verteilung in den damaligen EG-Mitgliedstaaten einzuführen, wurde vor allem von Frankreich und Großbritannien abgelehnt. Dort herrschte die Meinung, die Vertriebenen sollten möglichst nahe beim Herkunftsort untergebracht und betreut werden. Andere Länder schlugen die Einrichtung sogenannter sicherer Zonen auf dem Gebiet Ex-Jugoslawiens vor, allerdings gab es keinen Konsens darüber, Truppen zur Sicherung dieser Zonen zu entsenden.

Völlig falsch verstandene Appeasement-Politik

Im Sinne einer völlig falsch verstandenen Appeasement-Politik verhinderten Großbritannien und Frankreich vehement die Aufhebung des Waffenembargos gegenüber Bosnien-Herzegowina, womit einigermaßen Waffengleichheit hergestellt worden wäre. Die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb am 22. August 1992: "Der in westlichen Hauptstädten mit höchster Lautstärke verkündete Verzicht auf jeden militärischen Eingriff kann Leute wie Milošević und Karadžić, die offenkundig nur die Sprache der Gewalt verstehen, einzig ermutigen, in ihrem Tun fortzufahren. Zumindest das Drohmittel eines militärischen Schlags brauchten sich jene, die gestern noch an eine ‚neue Weltordnung‘ zu glauben schienen, nicht frühzeitig aus der Hand zu geben." 30 Jahre sind seither vergangen - und doch brauchen nur die Namen ausgetauscht zu werden, und der Kommentar ist aktueller denn je.

Was die Sanktionen gegen den russischen Kriegstreiber betrifft, so haben die EU-Staaten doch etwas dazugelernt: Sie sind weitgehend einig. Auch wenn das eine oder andere Land versucht, ganz spezielle eigene Interessen von den Sanktionen gegen Russland auszunehmen oder sie zwar nolens volens mitzutragen, aber verbal Verständnis für den Aggressor zu signalisieren. Das war 1992 anders: Die EG-Staaten konnten sich nicht auf schärfere Überwachungsmaßnahmen des Handelsembargos gegen Rest-Jugoslawien einigen. Erfreulich ist, dass heute sogar Serbien weitgehend die Positionen der EU gegenüber Russland auch in internationalen Gremien mitträgt.

Milošević erklärte sich nach den Präsidentschaftswahlen der Bundesrepublik Jugoslawien vom 24. September 2000 zunächst zum Wahlsieger, wurde aber am 5. Oktober nach langanhaltenden Protesten und Massendemonstrationen durch einen Volksaufstand gestürzt. Neuer Präsident wurde nach Neuwahlen Vojislav Koštunica. Allerdings war das auch erst acht Jahre nach den geschilderten Kriegen. Eine ähnliche Aussicht beim aktuellen Krieg in der Ukraine würde noch viele tausende - sowohl Ukrainer als auch Russen - das Leben kosten.

Die Lehre aus der Geschichte: Vertraue keinem machtbesessenen Autokraten, traue ihm alles zu und rechne immer mit dem Schlimmsten! Dann können wir nicht mehr blauäugig überrascht werden so wie vor einem Monat zum zweiten Mal seit 1945.