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Eine erneuerbare Mogelpackung?

Von Michael Norton

Gastkommentare
Michael Norton ist Direktor des Umweltprogramms des European Academies’ Science Advisory Council (EASAC) und Professor am Tokyo Institute of Technology, der Shinshu University und der Tohoku University. Der Text basiert auf einem Interview, das in "European Science-Media Hub" veröffentlicht wurde .
© EASAC / Tamas Szigeti

Betrachtet man die gesamte CO2-Bilanz, dann ist Biomasse als erneuerbarer Energieträger höchst fragwürdig.


Biomasse wird zusammen mit Sonnen- und Windenergie zu den erneuerbaren Energieträgern gezählt, und sie ist ja auch tatsächlich erneuerbar in dem Sinne, dass ein Baum eben wächst. Aber die eigentliche Bedeutung von "erneuerbar" in diesem Zusammenhang ist, dass die Energiequelle die CO2-Konzentration in der Atmosphäre reduzieren muss. Wir subventionieren erneuerbare Energien, um den Klimawandel zu bekämpfen.

Die wissenschaftliche Realität ist jedoch, dass Solar- und Windenergie bei der Stromerzeugung fast kein CO2 ausstoßen, während es bei Biomasse pro erzeugter Kilowattstunde Strom weit mehr ist als bei Gas und sogar mehr als bei Kohle. Es ist also sehr fraglich, ob Biomasse unter Klimagesichtspunkten überhaupt als erneuerbarer Energieträger angesehen werden sollte.

Wenn man sich die Geschichte der Bioenergie anschaut, stammt die ursprüngliche Idee aus der typisch skandinavischen Forstwirtschaftspolitik: Rückstände, die sonst ungenutzt blieben, wurden verbrannt, um etwas Energie daraus zu gewinnen. Aber als Biomasse dann generell als erneuerbar eingestuft wurde, war es auf einmal ein Leichtes, Kraftwerke so zu etikettieren, indem man die Brennstoffe von Kohle einfach auf Biomasse umstellte.

Ein Großteil der sogenannten erneuerbaren Energien in Europa stammt heute aus Biomasse. Die Idee der CO2-Neutralität wurde zum Grundsatz der EU-Verordnungen. Und die Emissionen aus der Verbrennung von Biomasse wurden als Null eingestuft, weil man davon ausging, dass sie durch die Aufnahme von CO2 aus der Atmosphäre durch die Photosynthese der nachwachsenden Bäume kompensiert würden.

Nachdem dieser Grundsatz in den Vorschriften verankert war, wurde er jedoch recht schnell auf große Kraftwerke ausgeweitet, ohne dass die Verbrennungsmenge begrenzt wurde. Deshalb können große Biomassekraftwerke wie Drax in Großbritannien jedes Jahr Millionen Tonnen an Kohlendioxid aus ihren Schornsteinen ausstoßen, ohne dass diese Emissionen in den Emissionsberichten des Kraftwerks oder des Landes angerechnet werden.

Es dauert sehr lange, bis abgeholzte Bäume ersetzt sind

Die entscheidende Frage lautet aber: Trifft in diesen Fällen die Annahme der CO2-Neutralität tatsächlich zu? Das Argument, dass der in der Biomasse enthaltene Kohlenstoff durch das Nachwachsen des Waldes wieder aufgenommen werde, greift jedenfalls zu kurz. Denn wenn man mit der Abholzung eines Waldes beginnt, entnimmt man den Kohlenstoff aus dem Wald und gibt ihn bei der Verbrennung direkt in die Atmosphäre ab. Es dauert aber sehr lange, bis der Wald wieder nachwächst und die verbrannten Bäume ersetzt. Es gibt also eine zeitliche Verzögerung zwischen der Freisetzung von CO2 in die Atmosphäre und der kompensierenden Wiederaufnahme aus der Atmosphäre. Das wird als Kohlenstoff-Rückzahlungszeit bezeichnet.

Diese Rückzahlungszeit kann aus zwei Gründen recht lang sein: Das Kraftwerk muss mehr Kohlendioxid ausstoßen, um die gleiche Menge Strom zu erzeugen wie mit Kohle, und bei der Verwendung von Gas ist sogar mehr als doppelt so viel. Es entsteht eine große CO2-Schuld, die erst nach langer Zeit wieder abgebaut wird. Das kann von einigen Jahrzehnten bis hin zu praktisch nie reichen, wenn sehr kohlenstoffreiche Rohstoffe verwendet werden. Das wirkt sich auf die Kohlenstoffvorräte in den Wäldern aus.

Somit ergibt sich die ironische Situation, dass sogenannte erneuerbare Energien den CO2-Gehalt in der Atmosphäre über Zeiträume erhöhen, die viel länger sind als die Zeit, die uns noch bleibt, um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen. Warum in aller Welt sollten wir etwas subventionieren, das die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass wir die Pariser Klimaziele verfehlen werden?

Lange Lieferketten von Nord- und Südamerika nach Europa

Mehrere Dinge haben sich seit der Verabschiedung der EU-Richtlinie zu erneuerbaren Energien im Jahr 2009 geändert: Hohe Subventionen haben nicht nur zu einer raschen Ausweitung und Industrialisierung der Biomasseverbrennung in umgerüsteten Kraftwerken geführt, sondern auch zur Entwicklung langer Lieferketten von Kanada, den USA und sogar Brasilien aus, die alle Rohstoffe für EU-Kraftwerke produzieren. Allein diese Versorgungsketten stoßen viel mehr CO2 pro Kilowattstunde aus als alle anderen erneuerbaren Energien wie Sonnen-, Wind- und Wasserkraft.

Ihre rasche Industrialisierung mag anfangs nicht erwartet worden sein, aber wenn man einmal investiert hat, gibt es eine "Lock-in"-Situation, nicht nur bei den Erzeugern, sondern auch in dem Sinne, dass die Regierungen sich auf diese Null-CO2-Bilanzierung verlassen, um ihre bilanzierten Emissionen zu reduzieren. Das macht ein bisschen süchtig, und es ist sehr schwierig, daran etwas zu ändern, wenn man erst einmal so viel Geld investiert hat. Es gibt daher jetzt viele mächtige Interessengruppen, die ihre Subventionen behalten wollen. Laut "Financial Times" belaufen sich diese in ganz Europa - inklusive Großbritannien - auf rund 10 Milliarden Euro pro Jahr.

Nun haben wir eine Situation, in der Biomasse teurer ist als Solar- und Windenergie, deren Preise stark gesunken sind. Und die teure Biomasse hat anfänglich negative Auswirkungen auf das Klima - im Gegensatz zur Solar- und Windenergie, die schon nach wenigen Jahren positive Klimaeffekte aufweisen. Bioenergie hat außerdem negative Auswirkungen auf die biologische Vielfalt.

Pellets bestehen nicht nur aus übrig gebliebenen Holzabfällen

Im Vorjahr wiesen 500 Wissenschafter in einem Brief an die EU-Kommission auf die perversen Auswirkungen der Bioenergie hin und forderten sie auf, Kriterien zur Vermeidung langer CO2-Rückzahlungszeit in die Erneuerbaren-Richtlinie (RED) III aufzunehmen. Die derzeitige Erneuerbaren-Richtlinie enthält zwar Nachhaltigkeitskriterien, die jedoch nicht vorschreiben, dass ein Land diese CO2-Emissionen aus der Atmosphäre (netto) wieder entfernen muss oder wie schnell dies geschehen soll.

Das anfängliche Konzept der CO2-Neutralität ging von einer Verwendung forstwirtschaftlicher Reststoffe aus, die bei der Holzernte für die Papier- oder Holzproduktion oder bei früheren Holznutzungen übrig bleiben. Sobald man jedoch zum Beispiel 5 Millionen Tonnen für ein Kraftwerk kaufen muss, sind die echten Rückstände bald aufgebraucht, und man muss anfangen, Bäume zu fällen. Und hier geht man dann diese große CO2-Schuld ein, weil der Kohlenstoff im Baum auf ineffiziente Weise direkt in die Atmosphäre emittiert wird.

Die Pellet-Hersteller verwenden sicher auch Rückstände aus Sägewerken und andere Holzabfälle. Aber das macht wahrscheinlich bei den meisten real nicht mehr als 10 bis 20 Prozent des Rohstoff-Inputs aus. Der größte Teil sind ganze Bäume, die in den Pellet-Fabriken landen. Argumentiert wird, das benutzte Holz sei im Allgemeinen nicht gut genug, um stofflich als Holz verwendet zu werden, daher wird es als "Restholz" eingestuft. Diese Definition wird jedoch sehr flexibel gehandhabt und schließt auch die Durchforstung oder den Kahlschlag eines Waldbestands mit ein, der für die Bioenergie an diesem Standort einfach am lohnendsten ist.

Zusätzliche Abholzungen zur Gewinnung von Restholz

Die Idee, einfach minderwertiges Holz zu verwenden und es als Restholz zu bezeichnen, mag für die Öffentlichkeitsarbeit nützlich sein. Für die Berechnungen des Kohlenstoffhaushalts macht sie jedoch keinen großen Unterschied, weil dem Waldbestand stets zusätzlicher Kohlenstoff entnommen und in die Atmosphäre eingebracht wird. Und die kompensierende Wiederaufnahme von CO2 aus der Atmosphäre ist zu langsam, um den Klimawandel innerhalb des Zeitraums (bis spätestens 2050) abzumildern, der uns vor einem katastrophalen Klimawandel bewahren kann.

Weil die Nachfrage steigt, könnten die Pellet-Produzenten bald Schwierigkeiten haben, genügend Restholz zu bekommen, sodass die Betreiber zu einer Massenproduktion durch zusätzliche Abholzungen gezwungen sein werden. Und das kann durchaus Kahlschläge von ganzen Waldbeständen bedeuten. Außerdem sind die Lieferketten für Bioenergie ziemlich lang und relativ ineffizient, da sie viele Menschen beschäftigen. Es gibt Schiffe, Züge, Häfen und Verladeanlagen. Die Abholzungen geben der lokalen Forstwirtschaft Auftrieb. Und natürlich haben die Wirtschaftsakteure einen großen politischen Einfluss. Die Wissenschaft ist eine unbequeme Wahrheit, die Interessengruppen lieber unter den Teppich kehren, um ihre Geschäfte wie gewohnt weiterzuführen.

Es ist ein klassischer Fall, in dem Politiker andere wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Faktoren ins Spiel bringen und sich bei ihrer Beurteilung manchmal mehr auf diese Faktoren stützen als auf wissenschaftliche Grundlagen. Letztendlich geht es also darum, den ganzen Rauch und die Spiegel zu durchschauen und die Wahrheit herauszufinden, bevor man eine Entscheidung trifft.