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In der Zwickmühle

Von Werner Stanzl

Gastkommentare
Werner Stanzl (geboren 1941) ist Publizist und Dokumentarfilmer. Er war außenpolitischer Journalist (unter anderem in London und Hamburg).
© Barbara Stanzl

Wie soll der Westen mit dem Ukraine-Krieg umgehen?


Da sind die Ethiker: Professorin Veronika Grimm etwa, deutsche Wirtschaftsweise im Berliner Wirtschaftsministerium, fordert per Twitter einen Verzicht auf Gaslieferungen aus der russischen Kälte, weil mit Wladimir Putin im Energiegeschäft zu bleiben, "diesen und China geradezu einladen würde, ihre Aggression weiter voranzutreiben".

Dort sind die Bedenkenträger: Mit den Sorgenfalten der einstigen Friedensakrobaten im Gleichgewicht des Schreckens des Kalten Krieges warnen sie vor einem rigoroseren Vorgehen. Gerade das könnte Putin zu Kampfhandlungen gegen uns oder gegen einen von uns provozieren.

Damit befindet sich das friedliche Europa in der Ausweglosigkeit einer Zwickmühle. Allem Anschein nach kann es nur Fehler machen. Doch auch in der Zwickmühle gibt es die Kategorien "schlecht" und "schlechter". Im Vergleich erkennt man das Verhaltensmuster der Ethiker als das schlechtere, weil mehrfach Katastrophen heraufbeschwörend. Ein Kaufstopp für Putins Gas nähme den Verlust von Arbeitsplätzen in unserer Industrie in Kauf, bescherte uns Abhängigkeit von der Nabelschnur Soziales statt Einkommen. Was bliebe, wäre Vegetieren statt Leben, wenn auch "in weniger Wohlstand", wie Deutschlands Wirtschaftsminister Robert Habeck einräumt. 

Putin ist nicht auf uns als Energiekunden angewiesen

Daher sind die Scharfmacher daran zu erinnern, dass eine Entscheidung für Jobs und gegen Massenarbeitslosigkeit auch etwas mit Ethik zu tun hat. Vielleicht beruht deren Entschlossenheit, Putin den Euro- und Dollar-Fluss abzudrehen und uns den Gashahn, auf dem Fehler, dass sie die Floskeln der Staatskanzleien des Westens, ihr Märchen mit einem doppelten Happy End, mit der Realität verwechseln.

Demnach bräuchte es nur noch ein wenig mehr Rasseln mit der Kette der Sanktionen, um Putin aus seinen Schwärmereien vom "Russischen Imperium" zu reißen. Zum anderen sei alles gut, denn die Komponenten unseres Lagers bewegten sich ohne Wenn und Aber im Gleichschritt des Bündnisses. All das ist so wahr wie Scarlets Hollywood-Tränen.

Tatsächlich sieht die Wahrheit zu den "schärfsten Sanktionen, die es je gab" (Zitat: Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer) erschreckend anders aus. Und über die angebliche Erkenntnis, Putin sei "total isoliert" (Zitat: Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz), kann man nur lachen:
- Auf uns als Energiekunden angewiesen ist Putin nicht. Sein über die Jahrzehnte kunstvoll gesponnenes Netz der politischen und ökonomischen Abhängigkeiten von Drittstaaten trägt ihn. 35 Regierungen, die mehr als vier Milliarden Erdenmenschen repräsentieren, haben sich am 2. März in der UN-Vollversammlung bei der Verurteilung des russischen Angriffskriegs neutral gestellt.
- Bei einer weiteren UN-Abstimmung nach den Angriffen auf die Entbindungsstation von Mariupol waren es nicht weniger Staaten, die bei der Verdammung von Putins Überfall auf die Ukraine die Hand unten ließen, sondern sogar um drei mehr, darunter Indien für 1,4 Milliarden Erdlinge. Russlands Außenminister Sergej Lawrow triumphierte vorige Woche nach seinem Empfang bei Indiens Premier Narendra Modi: "Wir sind Freunde und wissen es zu schätzen, dass Indien die Situation in der Gesamtheit der Fakten betrachtet."
- Putin überzeugt energiehungrige Kandidaten mit verlockenden Rabatten auf Energie für Vasallentreue. Den Preisnachlass auf russisches Öl beziffern einschlägige Broker mit 15 bis 20 Prozent. (Natürlich kassiert Indien gleichzeitig knapp unter der Milliardengrenze Entwicklungshilfe von Deutschland sowie mehrere hundert Millionen Euro von der EU und weiteren Mitgliedsstaaten).

Risse im Bündnis gegen Putin

Und dann das ewige Schlummerlied unserer Staatskanzleien, dass der Westen und die Nato in ihrem Anti-Putin-Kampf fest zusammenstünden. Auch in Moskau kann man darüber nur lachen. Fakt ist:
- Die Risse im Bündnis springen einem förmlich ins Auge. Das Nato-Mitglied Türkei beispielsweise beteiligt sich nicht an den verabredeten Wirtschaftssanktionen. Präsident Recep Tayyip Erdogan sieht sich gar als Mittler zwischen den Welten.
- Das EU-Mitglied Ungarn unter Premier Viktor Orbán will es sich mit Putin nicht verderben. Es beteiligt sich zwar an den Wirtschaftssanktionen, aber Bündnisstaaten dürfen durch oder über Ungarn keine Waffen in die Ukraine liefern.
- Israel, traditionell einer der engsten Verbündeten der USA, geht in Sachen Putin seinen eigenen Weg. Premier Naftali Bennett beschränkte sich bis dato darauf, davon zu schwafeln, dass er "die internationale Besorgnis über die schwere Eskalation in der Region" teile und "auf eine diplomatische Lösung" hoffe. Für Putin eher eine Streicheleinheit als eine Absage.
- Auch die Vereinigten Arabischen Emirate, der engste Partner der USA in der arabischen Welt, enthielten sich im UN-Sicherheitsrat ihrer Stimme.

Der Winterkrieg 1939/1940 als mahnendes Beispiel

Das alles wird die Verstockten unter den Ethikern wenig beeindrucken. Nicht einmal die Frage "Was, wenn auch der Gas-Stopp Putin kalt lässt?" kann sie einbremsen. Sie wiederholen dann nur ihre Argumente und sehen Andersdenkende dabei an, als ob diese zu gefühlskalt wären, um über die Bilder aus Butscha und Mariupol genauso erschüttert zu sein wie sie.

Vielleicht sollten die zum Maximalboykott Entschlossenen in den Annalen des russisch-finnischen Winterkrieges 1939/1940 nachblättern. Am 30. November überfiel die Rote Armee Finnland, das Gebietsansprüche des übermächtigen Nachbarn ignoriert hatte. Unter dem Kommando von General Carl Mannerheim - den Finnen im Gedächtnis wie den Österreichern ein Prinz Eugen oder Feldmarschall Radetzky - formierte sich ein heldenhafter Widerstand. Erst im Februar 1940 konnte die Rote Armee Stellungen der Finnen durchbrechen, worauf es am 13. März in überraschender Eile zum Friedensschluss kam. Finnland musste 12 Prozent seines Staatsgebiets an die UdSSR abtreten - 430.000 Finnen verloren für immer ihre Heimat - und sogar die Stationierung sowjetischer Truppen zulassen.

Mannerheim, der weltweit bewunderte Held, begründete die Hast, in der er das Friedensdiktat aus Moskau annahm, mit der sich anbahnenden Einmischung der damaligen Großmächte. Damit hätte Finnland nichts mehr gewinnen können. Es wäre Schauplatz eines totalen Krieges mit totaler Vernichtung seiner Existenz geworden. Damit lieferte Mannerheim den Beweis, dass Heldenhaftigkeit weises Handeln nicht immer und unbedingt ausschließt, Helden und das Fußvolk hinter ihren Fahnen nicht immer tragisch enden müssen. An diesen Wolodomyr Selenskyj jener Tage sei nun aus gegebenem Anlass erinnert. Und an die rund 70.000 Finnen, die in dem drei Monate währenden Krieg verwundet oder getötet wurden.