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Der unterschätzte gewaltfreie Widerstand

Von Werner Wintersteiner

Gastkommentare
Werner Wintersteiner ist Gründer und ehemaliger Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Buchtipp: "Die Welt neu denken lernen" (transcript, open access, 2021).
© WW

Die militärische Option ist für die Ukraine nicht alternativlos. Alle unmittelbaren und mittelbaren Konfliktparteien müssen auf eine Verhandlungslösung drängen.


Für die westeuropäische Öffentlichkeit scheint eines festzustehen: Die Ukraine muss sich militärisch mit aller Gewalt und den bestmöglichen Waffen verteidigen, um die russische Invasion zurückzuschlagen. Es gibt zwar einige Stimmen, die ein "Lob der Feigheit" singen, wie der Schriftsteller Franzobel, aber das fällt eher unter dichterische Freiheit und wird nicht ganz ernst genommen. Doch ist kampfloses Aufgeben tatsächlich die einzig mögliche Alternative zur militärischen Gegenwehr? Nicht unbedingt. Es gibt auch zivilen Widerstand. Ein Lob der Gewaltfreiheit ist kein Lob der Feigheit. Widerstand gegen die brutale und menschenverachtende russische Aggression ist alternativlos. Militärische Gegengewalt möglicherweise aber nicht. Jedenfalls spielt ziviler Widerstand in der Ukraine und in Russland tatsächlich eine wichtige Rolle, die bei uns mehr publizistische Beachtung finden sollte.

Während sich die ukrainische Regierung für den Widerstandskrieg entschieden hat und ihr ein großer Teil der Bevölkerung darin folgt, gibt es nach wie vor auch gewaltfreien Widerstand. Wir alle haben die Bilder gesehen, wie sich unbewaffnete Zivilisten unter Lebensgefahr russischen Panzern entgegenstellen, wie Straßenschilder verrückt werden, wie in besetzten Gebieten Proteste stattfinden. Darüber hinaus gibt es, auch angesichts der unglaublichen Brutalität der russischen Truppen, weniger offene Formen des Widerstands, der Sabotage usw.

Das mögen, rein militärisch betrachtet, nur Nadelstiche gegen die russische Kriegsmaschine sein. Und gewaltfreier Widerstand hat wohl nicht das Potenzial, die russische Aggression zu stoppen. Das heißt aber nicht, dass er sinnlos ist. Manche sehen in ihm eine "zweite Front". Wie eine neue Studie (Isak Svensson & Co.) zeigt, war selbst unter den Bedingungen des "Kalifats" des IS in Syrien und im Irak ziviler Widerstand möglich. Mittel- und langfristig haben zivile Aktionsformen eine wesentlich größere Chance, die Gegenseite zu demoralisieren und damit auch die Opposition in Russland selbst zu stärken.

Diese Opposition tritt mit mutigen Aktionen an die Öffentlichkeit. Alexej Nawalny hat zu zivilem Ungehorsam aufgerufen. Die Jabloko-Partei, die Mehrheit der Oppositionspolitiker und -aktivisten, viele Gemeinderäte im ganzen Land und sogar einzelne Abgeordnete der Duma und des Föderationsrats haben öffentlich den Krieg verdammt. Mehr als eine Million Menschen haben die Anti-Kriegs-Petition des Menschenrechtsaktivisten Lew Ponomarjow unterzeichnet, und tausende Akademiker haben eigene Resolutionen verabschiedet. Dieser Widerstand, so wenig er gegenwärtig noch ausrichten kann, ist langfristig die größte Hoffnung auf eine innere Veränderung dieses Riesenreiches.

Schlachtfeld in der Konkurrenz zwischen USA und Russland

Der ukrainische Widerstand hat inzwischen eine jahrzehntelange Tradition. Bei den Umfragen des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie spricht sich seit Jahren regelmäßig ein bedeutender Prozentsatz der Befragten für gewaltfreie Formen der Rückgewinnung des Donbass beziehungsweise gegen eine mögliche Aggression aus, zuletzt Anfang Februar dieses Jahres. Das sind nicht bloß Absichtserklärungen, sie beruhen auf zahlreichen Trainings in Gewaltfreiheit wie auch Kooperationen mit internationalen Experten.

Laut dem US-Universitätsprofessor Peter Levine verfügt die Ukraine sogar über "die höchste Zahl hocherfahrener gewaltfreier Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer in der ganzen Welt, dank der erfolgreichen ‚Revolution der Würde‘ (2014)". So hat die 2019 gegründete "Ukrainische Pazifistische Bewegung" den Mut, die Kriegslogik auch der eigenen Regierung prinzipiell abzulehnen und sich für die unpopuläre friedliche Lösung einzusetzen. Sie verhält sich keineswegs passiv, sondern stellt sich mit allen Kräften gegen die russische Invasion, aber sie verweist auch auf den größeren Kontext, in dem die Ukraine als Schlachtfeld in der Konkurrenz zwischen den USA und Russland dient.

Neues Wettrüsten führt nicht zum Frieden

Und so erfolgreich der militärische Widerstand der Ukraine bisher auch war, er erfordert nicht nur einen sehr hohen Preis, die Zerstörung ganzer Städte, tausende Tote, entsetzliche Kriegsverbrechen, er hat auch eine eigene Dynamik, weil immer mehr und immer effizientere Waffen erforderlich sind und von der Ukraine ja auch gefordert werden. Beide Parteien scheinen immer noch auf einen Sieg der eigenen Seite als Voraussetzung des Friedens zu setzen.

Das ist beim russischen Präsidenten Wladimir Putin ziemlich offensichtlich, aber ähnlich argumentiert auch die ukrainische Regierung. Und in den USA sieht Hal Brands, Professor an der Johns Hopkins Universität, den Krieg der Ukrainer gegen Russland als willkommene Gelegenheit, indirekt den eigentlichen Gegner der USA, nämlich China, empfindlich zu treffen. Brands ist nicht irgendjewer, er hat die nationale Verteidigungsstrategie der USA als "lead writer" wesentlich mitdefiniert. Man fragt sich: Wer will überhaupt den Frieden?

In den EU- und Nato-Staaten in Europa ist etwas ausgebrochen, das man nicht anders als eine Rüstungshysterie bezeichnen kann. Neutrale Staaten wollen in die Nato eintreten, Deutschland will die gigantische Summe von 100 Milliarden Euro ins Militär stecken. Aber die Welt wird durch ein neues Wettrüsten nicht friedlicher - das hat uns doch der Kalte Krieg gelehrt. Die hektischen Rufe nach Sicherheit durch mehr Waffen lenken davon ab, genauer zu untersuchen, warum Putin keinen allzu großen Widerstand des Westens erwartet hat. Dabei ging es eben nicht um die Bewaffnung der Nato. Sondern er hat gesehen, wie leicht es ihm gelingt, die politische Klasse und wirtschaftliche Elite Europas in sein System einzubinden und zu korrumpieren. Die heute so tief bedauerte Abhängigkeit Westeuropas von fossiler Energie aus Russland wurde zu einem großen Teil erst nach der Besetzung der Krim und der Ausrüstung der Rebellen im Donbass etabliert.

Vergeltung wird kein effizienter Weg zum Frieden sein

Die Anhänger der gewaltsamen Konfliktlösung denken kurzfristig. Sie vermeiden die Frage, die Yurii Sheliazhenko, Sekretär der "Ukrainischen Pazifistische Bewegung" und Wissenschafter an einer Kiewer Universität, stellt: nämlich, wie man aus diesem Krieg wieder herauskommt und langfristig Frieden herstellt. Mit der Dämonisierung des Gegners und mit einem europaweiten Wettrüsten werde das nicht gelingen, ist er überzeugt.

Auch wenn uns die Bilder von Butscha nahegehen und uns diese Massaker an Zivilisten empören, wird Vergeltung kein effizienter Weg zum Frieden sein. Wir müssen leider dem deutschen Historiker Jörg Baberowski zustimmen, der nüchtern feststellt: "Wenn Putin das Schlachtfeld nicht das Gesicht wahrend verlassen kann, wird es keinen Frieden geben." Alle unmittelbaren und mittelbaren Konfliktparteien müssen auf eine Verhandlungslösung drängen, wie UN-Generalsekretär António Guterres nicht müde wird zu wiederholen. Einen diesbezüglichen Appell hat auch der ehemalige Präsident von Costa Rica und Friedensnobelpreisträger Oscar Arias, zusammen mit einer Reihe weiterer Nobelpreisträger, an die Ukraine, Russland und alle Großmächte gerichtet.

Unterstützung des zivilen Widerstands

Was wir als westliche Zivilgesellschaft, über die humanitäre Hilfe hinaus, tun können, ist die Unterstützung des zivilen Widerstands in der Ukraine und der Anti-Kriegsbewegungen in Russland. Es braucht aber auch ein permanentes Bemühen, angesichts des Wahnsinns dieses Aggressionskrieges eine zivile Haltung zu bewahren und nach Friedenslösungen Ausschau zu halten. Das Anti-Kriegs-Gedicht "Hier und Dort" des Klagenfurter Verlegers Lojze Wieser, das inzwischen auf der ganzen Welt verbreitet und in 140 Sprachen übersetzt worden ist, ist ein kleiner Beitrag zu diesem großen Ziel.

Und vielleicht gibt es irgendwann ja doch noch eine Möglichkeit, das, was man in den 1990er Jahren versäumt hat, unter den heutigen, wesentlich erschwerten Bedingungen zu realisieren - eine europäische Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural. Dass Putin eine Rolle in dieser Friedensordnung spielen könnte, ist wohl nicht vorstellbar. Dass aber ein erneuertes Russland dabei eine Rolle spielt, sollte das explizite Ziel sein. Das wäre zumindest für einen relevanten Teil der russischen Zivilgesellschaft ein attraktives Angebot. Dazu nochmals der ukrainische Pazifist Sheliazhenko: "Um den Krieg zu stoppen ist es wichtig, den Diskurs der Angst zu überwinden zugunsten eines Diskurses der Hoffnung für eine bessere Zukunft."