Zum Hauptinhalt springen

Europas schlechtes Gewissen

Von Rainer Stepan

Gastkommentare
Rainer Stepan war langjähriger Mitarbeiter von Alois Mock, dann Studiendirektor in der Diplomatischen Akademie und schließlich zwei Jahrzehnte in der Metropolen-Außenpolitik der Stadt Wien, zuständig für Ausbildungen und Projekte in Städten und Regionen der Länder Zentralasiens, des Südkaukasus und der Ukraine.
© privat

Bis zum 24. Februar 2022 führte die Ukraine aus Sicht des Westens maximal ein Schattendasein.


Europa ist endlich aufgewacht. Die auch von Russland verbriefte Integrität der Ukraine als souveräner Staat war eigentlich schon 2014 massiv durch die "grünen Männchen" auf der Krim und die Besetzung des Donbass obsolet. Aber jetzt erst hat es Europa richtig bemerkt. Die Konsequenz daraus ist die sofort beginnende Unterstützung der Ukraine wie deren Einwohner, die millionenfach aus dem seit bald zwei Monaten blutenden Land flüchten.

Aber die Unterstützung allein wird es nicht schaffen; die bisherigen Sanktionen auch nicht. Neben Kohle und Öl sollten jene EU-Staaten, die hier nicht so abhängig sind wie Österreich, auch die Gasimporte stoppen. Generell ist es aber sehr spät in der sich schon vor langer Zeit abzeichnenden Situation. 2014 hätte die Stunde der Wahrheit sein müssen, aber die USA und Europa haben sich damals nur kurzfristig empört, wenig aufregende Sanktionen erlassen, und der Alltag kehrte bald wieder in Europas Staatskanzleien und im Weißen Haus ein. Letzteres sandte zumindest Waffen und Kriegsgerät in die Ukraine. In der EU spielte die Ukraine keine Rolle - man war nicht einmal bereit, eine Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. Man kannte dieses eigentlich ureuropäische Land nicht abseits seiner Funktion als Kornkammer; und man hat sich auch nicht bemüht, es besser kennenzulernen.

Auch Österreich hat nichts unternommen, um die Ukraine, dessen westlicher Teil einst ein Jahrhundert lang österreichisch war, zu unterstützen. Im Gegenteil, der Wiener Bürgermeister hat sich sogar geweigert, seinen Lemberger Amtskollegen zu besuchen. "Nein, das wäre imperialistisch", hieß es. Dabei hätte er in Lemberg verspüren können, was das "Österreichische" ist; ähnlich in Czernowitz, weil beide Städte in postsowjetischer Zeit mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit begonnen und dabei entdeckt haben, dass die beste Zeit für sie jene unter österreichischer Verwaltung war.

Aber in Nostalgie haben sich die jungen Intellektuellen nicht erschöpft; es waren vor allem jene Jugendlichen aus dem Westen des Landes, die die "Orange Revolution" in Kiew und den Maidan 2014/2015 gegen den altkommunistischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch wesentlich getragen haben; somit war deren österreichische Erfahrung die Basis, um die Zukunft des Landes als funktionierende Demokratie zu sichern und gleichzeitig ein gemeinsames Ukraine-Gefühl zwischen den sehr diversen Regionen und Städten zu fördern, was auch gelungen ist, wie jetzt deutlich und Achtung gebietend tagtäglich unter grausamen Umständen demonstriert wird.

Europa ist spät aufgewacht - womöglich zu spät?

Wohl kaum jemandem in Österreichs Politik ist aufgefallen, dass die ersten relativ freien und danach wirklich freien Wahlen nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Polen, in Rumänien und im zerfallenden Jugoslawien signifikant demokratischer waren als in den Regionen jenseits der ehemals österreichisch-ungarischen Grenzen. In Polen wurden dazu wissenschaftliche Studien durchgeführt, die dieses interessante Phänomen bestätigt haben. Interessant deshalb, weil es in vielen dieser Regionen seit 1918 einen bis zu fünffachen Bevölkerungsaustausch gab.

Bis zum 24. Februar 2022 führte die Ukraine jedenfalls aus Sicht des Westens maximal ein Schattendasein. Das Minsker Abkommen mit allen nachfolgenden Konferenzen war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil keine Lösung; 2014 und danach hätte der Westen die Gelegenheit gehabt, massiven politischen wie ökonomischen Druck gegenüber Wladimir Putin auszuüben und eine Lösung im Donbass etwa in Form einer gemeinsamen russisch-ukrainischen Wirtschaftszone auf souveränem Territorium der Ukraine anzubieten. Die EU hätte die Patenschaft über das Abkommen mit entsprechenden Wiederaufbauzusagen übernehmen können. Einen Versuch wäre es wert gewesen.

Man hätte sich auch bei der UNO um einen Schutzmachtstatus für die Ukraine gegenüber den Krimtataren bemühen können; dann hätte die Ukraine - ähnlich Österreich in Südtirol - zugunsten der von den Russen sehr schlecht behandelten Urbevölkerung einen Fuß auf der Krim gehabt und entsprechend politisch international agieren können; auch moralisch, hätte Russland dies mittels Veto abgelehnt.

Aber nichts ist geschehen, es wurde nicht einmal etwas versucht, so wie bei allen blutigst verlaufenen Interventionen Putins: Indirekt in Kirgisistan, um dort die zarte Demokratie-Pflanze im Keim zu ersticken, direkt 2008 in Georgien, wo Russland gleich zwei Provinzen kassierte (Abchasien und Südossetien), 2020 in Belarus, 2021 in Berg-Karabach und im heurigen Jänner in Kasachstan. Europa hat mit Ausnahme des von Jugendlichen getragenen Aufstands gegen Alexander Lukaschenkos gefälschten Präsidentschaftswahlsieg in Belarus nichts unternommen, ja nicht einmal einen Kommentar zu den meisten dieser blutigen Gewalttaten abgegeben. Syrien braucht in diesem Zusammenhang gar nicht erst erwähnt zu werden.

Wenigstens jetzt ist Europa aufgewacht; aber sehr spät, wenn nicht zu spät. Die große Solidarität mit den Ukrainern hat wohl ihren Ursprung im schlechten Gewissen. Aber es hätte schon genügend Gelegenheiten gegeben, Putin seine Grenzen aufzuzeigen.