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Präsidentin Le Pen?

Von Ursula Plassnik

Gastkommentare

Im französischen Wahlkampf gab die Rechtsextreme eine weichgespülte "Anwältin der kleinen Leute".


In jüngster Zeit ist schon öfter eingetreten, was die große Mehrheit nicht für möglich gehalten hätte: der Brexit, der Wahlsieg Donald Trumps, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Und der Wahlsieg Norbert Hofers im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen 2016. Steht uns Europäern am Abend des 24. April der nächste Schock ins Haus? Wählt Frankreich eine rechtsextreme Präsidentin?

Alle Umfragen sagen einen klaren Wahlsieg von Amtsinhaber Emmanuel Macron voraus. Trotzdem lohnt sich ein genauerer Blick auf diese Wahlen. Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Wäre ich in Frankreich wahlberechtigt, würde ich Macron wählen. Für Frankreich, aber auch für Europa. Umso mehr liegt mir daran, besser zu verstehen, warum das Rennen zwischen den beiden Kontrahenten phasenweise so knapp ausgesehen hat. Wie konnte sich überhaupt die Frage stellen, ob Marine Le Pen Präsidentin wird?

Im Wahlkampf erlebten die Franzosen eine weichgespülte "Anwältin der kleinen Leute", die viele ihrer bis dahin kategorisch vertretenen radikalen Positionen nun mit neuer Flexibilität argumentiert. Kopftuchverbot im öffentlichen Raum? Natürlich, aber das sei eine sehr komplexe Frage und das Parlament müsse darüber diskutieren. Vorrang des französischen Rechts vor dem EU-Recht? Ja, wie es eben auch schon das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe judiziert habe. Solidarität mit der Ukraine? Selbstverständlich, aber nicht zu Lasten der Franzosen, deren Kaufkraft nicht geschmälert werden dürfe. Also kein Energie-Embargo.

Die Marine Le Pen von 2022 hat ordentlich Kreide geschluckt. Und sie hatte "Wahlhelfer". Ganz ohne ihr Zutun wurde sie durch den rechtsradikalen, offen rassistischen, antisemitischen Polemiker und Trump-Verehrer Eric Zemmour mit seinem Angstschüren vor dem "großen Bevölkerungsaustausch" vom rechtsextremen Rand weggerückt. Die Chefin des Rassemblement National hat ihre De-Diabolisierung aber auch selbst aktiv vorangetrieben. Von Wladimir Putins völkerrechtswidrigem Überfall auf die Ukraine hat sie sich rasch und unmissverständlich distanziert, ukrainische Flüchtlinge seien aufzunehmen. Ihre Vorschläge zu Kaufkraft, Pensionen, Bildung, Steuerpolitik und ländlichem Raum werden selbst von Gegenspieler Macron als diskussionswürdig behandelt. Das TV-Duell war demgemäß über weite Strecken ein hartes Ringen um die besseren Konzepte. Nennt er sie "Klimawandel-Skeptikerin", wirft sie ihm vor, ein "Klimawandel-Heuchler" zu sein.

Ein toxischer Wut-Cocktail

Macron führt zwar in den Umfragen, aber ihm schlägt eine Welle intensiver Ablehnung - bis hin zu offenem Hass - entgegen. Ein toxischer Cocktail aus nackter Erschöpfung nach zwei Jahren Corona-Einschränkungen, dem immer noch präsenten Zorn der Gelbwesten, der Wut der linken Steigbügelhalter des Jahres 2017, der Ohnmacht der Globalisierungsverlierer in den schwierigen Vororten und im ländlichen Raum. Dazu noch diejenigen, die einfach genug haben von den arroganten Pariser Eliten, zu deren unfreiwilligem Bannerträger der junge Präsident geworden ist. Seine durchaus respektable Wirtschaftsbilanz einschließlich der niedrigsten Arbeitslosenrate seit 2008 wird kaum gewürdigt. In der Europa- und Außenpolitik gibt es neben unbestreitbaren Erfolgen durchaus bittere Demütigungen, etwa den Abzug aus Mali und den geplatzten U-Boot-Deal mit Australien. Das TV-Duell offenbarte einen Zappelphilipp-Präsidenten, ungeduldig, streberhaft, belehrend, empathiearm und manchmal hart an der Grenze zur Herablassung.

Ausgedient hat in Frankreich jedenfalls das traditionelle Links-Rechts-Schema. Republikaner und Sozialisten, die beiden staatstragenden Parteien der Nachkriegszeit, bringen heute gemeinsam nicht einmal mehr 7 Prozent auf die Wählerwaage. Macron gelang es 2017, aus den Trümmern ein neues Zentrum zu bauen. Inzwischen haben sich allerdings die Ränder auf beiden Seiten radikalisiert, einerseits um den altgedienten linkslinken Haudegen Jean-Luc Melanchon mit immerhin 22 Prozent und andererseits bei Rechtsaußen Zemmour. Wie in anderen europäischen Ländern ist der Mainstream in einer Art Parallelverschiebung nach rechts gerutscht, insbesondere bei Immigration und Identität.

Seit 20 Jahren hören die Franzosen in jeder Stichwahl, sie müssten die Rechtsextremen von der Macht fernhalten. Brav haben sie sich also bisher der "Republikanischen Front" angeschlossen und diverse Kröten geschluckt. Doch irgendwann nützt sich auch dieses Argument ab. Noch dazu, wenn die eindeutigste Trennlinie zwischen den Kandidaten längst nicht mehr zwischen Rechts und Links verläuft, sondern zwischen Nationalismus und Internationalität. Auch den Franzosen ist das Hemd meist näher als der Rock.

Wie glaubwürdig ist Le Pen?

Le Pen redet heute geschickt dem Lokalen, dem Überschaubaren, dem Hausverstand, der Selbstbestimmung das Wort. Geduldig tourt sie durchs Land, hört sich die Sorgen der Leute an, vermittelt Volksnähe. Die Demokratie will sie durch Volksabstimmungen beleben. Vom Frexit hat sie sich abgewendet, ebenso vom Euro-Ausstieg. Jetzt möchte sie die EU "lediglich" umkrempeln zu einem "Europa der Nationen", den Beitrag zum EU-Budget um 5 Milliarden Euro reduzieren ("I want my money back!") und an den Grenzen teilweise wieder Warenkontrollen einführen. Sie wettert gegen Freihandelsabkommen und verspricht Vorrang für die Franzosen. Wem macht das noch Angst?

Offen bleibt die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit: Wird sie die geschluckte Kreide wieder ausspucken? Ist der neue Stil nur Schminke und Tarnung? Hat die Wölfin nur den Schafspelz übergezogen? Würde "Marine présidente" die ohnehin durch Krieg, Kaufkraftverlust und Identitätszweifel verunsicherte Gesellschaft noch weiter spalten, die französisch-deutsche Freundschaft zerstören, Frankreich ins europäische Isolationseck stellen und nebenher noch die Verfassungsordnung auf den Kopf stellen?

Macron inszeniert sich derweil als Staatsmann, er spricht leidenschaftlich von europäischer Souveränität und der Unumgänglichkeit gemeinsamen Handelns. Er verweist auf die Erfolge des französisch-deutschen Tandems und erklärt die Stichwahl zum "Referendum über Europa". Das ist gewagt, offenbarte doch das vergangene EU-Referendum die tiefe Kluft zwischen EU-begeisterten Eliten und EU-skeptischer Bevölkerung: 2005 schmetterten die Franzosen die von ihrem eigenen Ex-Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing maßgeblich mitentwickelte EU-Verfassung ab.

Wird der jetzige Amtsinhaber Macron dem anschwellenden populistischen Ansturm standhalten? Immerhin haben im ersten Wahlgang fast 60 Prozent der Wähler "extrem" gewählt. Kann er in Zeiten des Krieges Frankreichs inneren Zusammenhalt gewährleisten? Wird er vom "Präsidenten der Reichen" zum "Präsidenten des Volkes"?

In den letzten Umfragen liegt Macron mit einem eindeutigen Vorsprung bei 56 Prozent. Dennoch: Wie zuverlässig sind die Umfragen? Sind Le Pens Wähler unterdeklariert? Wie viele sind unentschlossen? Wer mobilisiert im Endspurt besser? Wie hoch ist die Wahlbeteiligung? Wer punktet bei den 22 Prozent Mélanchon-Wählern? Wer bei der Jugend? Und vor allem: Welcher Wunsch ist größer in Kopf und Herz der Franzosen - Veränderung oder Kontinuität?

Eine Präsidentin Marine Le Pen ist nicht wahrscheinlich. Ausgeschlossen ist sie aber nicht.