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Arbeitsmarkt und Schule: so fern und doch so nah

Von Georg Kopp und Ernst Smole

Gastkommentare
Georg Kopp ist Präventionsentwickler in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Wirtschaftsförderung.
© privat

Warum kleine Schritte zu Quantensprüngen werden könnten.


Eine Bildungsinitiative bat einen früheren Arbeits- und Sozialminister um ein Gespräch. Man wollte Querverbindungen zwischen Schule und Arbeitsmarkt diskutieren. Die ministerielle Antwort: "Ihr Mail ist offenbar ein Irrläufer, wir haben mit Schule nichts zu tun." Ähnlich das Wirtschaftsministerium auf diese Anfrage - nur zwei Beispiele für die strikte Trennung der ministeriellen Zuständigkeiten. Schule und Bildung werden besonders eifrig gemieden, denn "Schule ist zu einem Kampfplatz geworden - ich bin froh, damit nichts zu tun haben", wie ein früherer Bundesminister meinte.

Daher ist es ein kleiner, aber in den Auswirkungen möglicherweise großer Schritt, vielleicht gar ein Quantensprung, was die "Wiener Zeitung" in ihrer Ausgabe vom 18. März 2022 geleistet hat: eine Illustration auf der Titelseite, die klarmachte, dass es um Bildungsprobleme geht, und darunter: "Arbeitsminister Martin Kocher über Frauenquoten, Reformen und Flüchtlinge auf Jobsuche." Erste Reaktion: Oje, eine irrtümliche Bildunterschrift, denn Bildung und Arbeitsmarktagenden haben bekanntlich nichts miteinander zu tun. Doch die folgenden drei Spalten - ebenfalls auf der Titelseite - stellten klar: Hier geht es tatsächlich um Wechselwirkungen von Schule, Bildung und Arbeitsmarkt.

Im Innenteil dann im Interview von Bernd Vasari eine kleine Sternstunde, der kleine Schritt, der zum Quantensprung werden könnte: ein Arbeitsmarktminister, der sich nicht scheut, zentrale Probleme der Schule anzusprechen, insbesondere den mittlerweile alle Gesellschaftsschichten in unterschiedlichem Ausmaß betreffenden Analphabetismus, von dem bereits, wie jüngst der "Standard" berichtet hat, auch knapp
4 Prozent der Akademiker(!) betroffen sind, und ein offensichtlich in allen behandelten Fragen bewanderter Redakteur, der sich nicht scheut, einzugestehen, dass er auch an Mittelschulen, den früheren Hauptschulen, unterrichtet. Selbstverständlich ist dieses Bekenntnis nicht, denn Lehrer, die einen Berufswechsel anstreben, verschweigen meist so lange wie möglich, dass sie Lehrer sind. Bei diesem Interview sind der Interviewer und der Interviewte gleichermaßen die Stars.

"Im Öffentlichen Dienst gibt es immer eine Kluft zwischen verschriftlichten Regelwerken und gelebter Praxis, doch nirgendwo ist dieser ‚Gap‘ so tief wie im Schulwesen", hat ein renommierter Verwaltungs- und Sozialexperte festgestellt. Die Kluft zwischen Formal- und Realverfassung ist nicht die einzige, die man im Schulbereich findet. Es gibt sie auch in Hinsicht auf das, was viele Schulleiter, Lehrer, Vertreter der Schulbehörden und der Bildungspolitik äußern, wenn sie etwa von Medien oder im Zuge von schulischer Feldforschung offiziell befragt werden, oder wenn man unter vier Augen mit ihnen spricht. Da klaffen die Ansichten nicht selten um 180 Grad auseinander.

Es gibt zur Schulwirklichkeit viele Wahrnehmungen, die einander diametral widersprechen. Zur annähernden realen Wahrheit gelangt man am ehesten dann, wenn man den Inhalt von Vier-Augen-Gesprächen einer tiefgehenden, kritischen Reflexion unterzieht. Dass dies einen Arbeitsminister, der sich notgedrungen ausschließlich der offiziellen Sichtweisen bedienen kann und darf, vor eminente Herausforderungen stellt, ist klar.

Berufswunsch: "AMS gehen"

Zu den Themen des Interviews: Es liegt in der Natur der Komplexität der Sache und der zahlreichen Gaps, dass die "Schulstraße" mit Schlaglöchern übersät ist und das daraus resultierende pausenlose "Rütteln" gravierende Orientierungs- und Wahrheitsfindungsprobleme verursachen kann: Eine teils verlorene Generation gibt es leider. Jährlich verlassen rund 10.000 sogenannte NEETs (Not in Employment, Education and Training), die nirgendwohin gelangen, auch in keine belastbare Statistik, die Pflichtschulen. Meist werden sie von den (meist arbeitslosen) Eltern alimentiert und sind in der Regel erstaunlich bedürfnislos. Viele von ihnen antworten auf die Frage, welchen Beruf sie zu ergreifen gedenken: "Ich gehe AMS." Und das ist durchaus ernst gemeint. Sie wissen, dass der Vater regelmäßig zum AMS geht - für sie ist "AMS gehen" tatsächlich ein Beruf wie jeder andere auch.

Dass die Quote der nicht Ausgebildeten immer geringer wird, trifft nur bedingt zu, denn es gibt immer mehr junge Leute, die zwar ein positives Abschlusszeugnis der Pflichtschule haben, aber dennoch so gut wie nichts können - Stichwort: Lesen, Schreiben, Rechnen -, also "Notendumping". Auch die AHS sind davon betroffen: Dort finden sich nicht wenige Kinder mit lauter Einsern im Volksschulabschlusszeugnis, die allerdings nicht nur schlecht lesen, sondern de facto gar nicht lesen können. Die Gründe dafür sind vielfältig. Diese Kinder sind liebenswerte Menschen. Viele von ihnen - und auch ihre Eltern - merken lange, zu lange nicht, wie ihnen in der Schule geschieht.

Die Pisa-Gesamtkurve zeigt konstant nach unten

Schulungen fangen Schulversager nur teilweise auf. Laut AMS werden etwa Bildungskarenz und Bildungsteilzeit meist genau nicht wie intendiert zum Nachholen der Grundkompetenzen genutzt, sondern für das zweite Bakkalaureat, für den Master oder für eine andere höhere Qualifikation. Ein Grund dafür ist, dass, wer nicht bis zum Ende der Pubertät das Lernen (also das Arbeiten) erlernt hat, es nie lernt - mit seltenen Ausnahmen. Bei den Lehrabschlussprüfungen gibt es branchenunterschiedlich teils hohe Durchfallsraten. Man muss den Prüfern eigentlich dankbar sein, dass sie nicht so wie viele Schulen "Notendumping" betreiben und uns unfähige Gasmonteure in die Wohnungen schicken.

Dass das Bildungssystem in Österreich "ganz gut funktioniert", ist sicher keine gewollte, aber dennoch eine grobe Irreführung. Die sehr wohl aussagekräftige Pisa-Gesamtkurve zeigt seit 2000 bis heute konstant nach unten, obwohl die Gesamtkosten für das Schulsystem Jahr für Jahr steigen. Nach Luxemburg ist Österreich das OECD-Land mit den höchsten schülerkopfbezogenen Bildungsausgaben.

Drücken "schwierige" Bevölkerungsgruppen - gemeint sind damit wohl Kinder mit Migrationshintergrund - das Niveau nach unten? Zutreffend ist, dass die Zuwandererkinder uns die Defizite des Bildungssystems bewusst gemacht haben. Als Begründung für diese Defizite taugen sie nicht. In Wien war das Ergebnis eines nicht veröffentlichten Lesetests, dass in der Gruppe der schlechtesten Leser die Zahl der autochthonen Kinder zunimmt, jene der Migranten aber zurückgeht.

Auch die hohe Zahl der Langzeitarbeitslosen hängt mit der Bildungspolitik zusammen. Das "Abmontieren" von Lehrern, Schulleitern und der Schule selbst als Institution hat in den 1970ern begonnen. Legendär ist eine Empfehlung des Wiener Stadtschulrates: "Lehrer sollen sich frühestmöglich von der Leitung des Unterrichts zurückziehen." Intendiert war, die Kinder zu Eigentätigkeit anzuleiten. Heutige Langzeitarbeitslose sind teils Opfer auch dieser Entwicklung - und diese wiederum ist eine Spätfolge der NS-Zeit. Doch dies ist eine andere Geschichte, die Bibliotheken füllen könnte. Anfang der 1980er hat das Institut für Höhere Studien (IHS) auf die sinkenden Kenntnisse im Lesen, Schreiben, und Rechnen hingewiesen. Und die damalige Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP) hat 1997 im Gespräch mit einer Gruppe von "Musikerziehungsrettern" prophezeit: "Wir gehen einer Gesellschaft von Analphabeten entgegen." Sie wurde für verrückt erklärt, auch von manchen Experten, die ihr heute zustimmen . . .

Ukrainische Arbeitskräfte und (k)ein Sprachproblem

Nicht wenige Betriebe stellen aus Gründen der sozialen Verantwortung Lehrlinge beziehungsweise Mitarbeiter ein, obwohl sie wissen, dass diese kaum Leistungsträger sein werden. Sie übernehmen nach der Lehrabschlussprüfung, die viele nur knapp bestehen, meist nur wenige Absolventen auf Dauer in den Betrieb. Einzelne entwickeln sich dennoch zu Spitzenkräften. Die Firmen fragen sich: "Was hat die Schule mit diesen wirklich Begabten neun Jahre lang getan?" Diese Frage stellt sich auch die so bedeutende Abteilung "Unentdeckte Talente" des AMS, die unter den ihr zugewiesenen "hoffnungslosen Fällen" immer wieder Hochbegabungen entdecken. Ja - was ist da alles schiefgelaufen? Braucht es auch dafür eine ganze Bibliothek? Nein, die akuten Gründe liegen mittlerweile für alle einsehbar auf allen ministeriellen und anderen Tischen.

Und jetzt kommen also ukrainische Flüchtlinge dazu. Die Schulwirklichkeit in der Ukraine ist wie auch in Russland und Ungarn recht "erdverbunden", also aus unserer Sicht eher streng - auch Schuluniformen gibt es dort teils noch. Probleme mit den Grundkompetenzen scheint es dort deutlich weniger zu geben als bei uns. Wie sieht es aber mit der Sprache in Bezug auf zuwandernde Arbeitskräfte aus der Ukraine aus? An den heimischen Unis gibt es Studienrichtungen, die man nur auf Englisch absolvieren kann. Weil Deutsch eine der schwierigsten Sprachen ist - was Muttersprachler natürlich nicht wissen -, sollte man ukrainische Fachkräfte mit dem "Deutsch über alles"-Sprachterror verschonen, denn in ihrer prioritären Branche (IT und ähnliches) ist ohnehin Englisch weltweit die Standardsprache. Und die beherrschen so gut wie alle Fachkräfte aus der Ukraine. Freilich sollten jene Kinder aus der Ukraine, die womöglich länger bei uns bleiben werden, Deutsch lernen. Dies aber nicht nach den Methoden, die die Lehrer heute zu praktizieren genötigt sind - es gibt weit zielführendere, menschengerechtere. Doch auch das ist ein Bibliotheken füllendes Thema.

Der kompetent interviewende Redakteur und der so beglückend und lustvoll "in fremden Revieren wildernde" Arbeitsminister haben gemeinsam die Türen zu wahrer ministerieller "Interdisziplinarität" aufgestoßen. Diese Türen sollten weit offen bleiben zum Nutzen aller, denen Erwerbsarbeit aus welchen Gründen auch immer wichtig ist.