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Das Muezzin-Experiment

Von Ingrid Thurner

Gastkommentare
Ingrid Thurner ist Ethnologin, Publizistin im Bereich Wissenschaftskommunikation und Mitglied der Teilnehmenden Medienbeobachtung (www.univie.ac.at/tmb) am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien.
© privat

Kölns Bürgermeisterin wagt einen Vorstoß, der wie erwartet polarisiert.


Allfreitäglich dürfte nun in Köln der Muezzin erschallen, dessen Aufgabe es ist, die Gläubigen in die Moschee zu rufen. Natürlich ist die Initiative mit allerhand Einschränkungen und Auflagen versehen, etwa was Zeitraum, Dauer und Lautstärke betrifft. Auch ist sie auf zwei Jahre befristet. Danach soll evaluiert werden. Aber sogleich ist grenzüberschreitend eine Debatte entbrannt. So manche Schweizer frohlocken, weil sie vor Jahren schon Minarette verboten haben, offenbar einer verqueren Logik folgend: wo keine Minarette, da kein Muezzin, da keine Agitation . . . Gewiss wird das neue antimuslimische Getöse über kurz oder lang auch nach Österreich überschwappen.

Sogenannte Islamkritiker beschwören wieder einmal den Untergang des Abendlandes herauf, und es kursiert die bizarre Behauptung, damit würde "der politische Islam" begünstigt. Genauso gut könnte man befürchten, dass Kirchenglockengeläut den politischen Katholizismus befördere.

Denn so ein Gebetsruf lässt keinen Raum für Propaganda. Die Texte sind standardisiert, mit Variationen für die verschiedenen Strömungen innerhalb des Islam. Wenn politische Indoktrinierung stattfindet, dann bestimmt nicht in aller Öffentlichkeit und für alle hörbar, sondern ganz im Geheimen in Hinterzimmern und Kellern. Gesetzwidrige Inhalte posaunt man nicht in die Welt hinaus.

Auch aus feministischen Kreisen verlautet Kritik, dass nämlich nur Männer rufen und nur Männer gerufen werden. Dabei wird ignoriert - vielleicht weiß man es nicht besser -, dass der freitägliche Moscheebesuch mit Predigt und anschließendem gemeinsamem Gebet nur für Männer obligatorisch ist. Für Frauen besteht diese Pflicht nur zweimal jährlich an den hohen Feiertagen. Es wird also - wie schon so oft - mit aller Selbstverständlichkeit den Angehörigen einer Religion zu verstehen gegeben, wie sie ihren Glauben zu leben, zu gestalten und zu ändern haben. Die Forderung, dass die heiligen muslimischen Texte gefälligst gegendert werden sollen, steht (noch) unausgesprochen im Raum.

Für viele Gläubige ist die Kölner Entscheidung natürlich ein Grund zu großer Freude. Die implizite Botschaft lautet: Muslime sind willkommen. Sehr selten vernimmt die muslimische Bevölkerung Europas eine solche Nachricht. Sehr viel öfter ist sie Benachteiligungen, Diskriminierungen und Vorurteilen ausgesetzt. Eine Machtdemonstration ist der Gebetsruf allemal, ebenso wie Kirchenglockengeläut demonstriert er Präsenz vor Ort und Einfluss einer klerikalen Organisation auf ihre Mitglieder und die Gesellschaft. Aber Kultusfreiheit ist nun einmal Bestandteil der verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit.

Allerdings ist zu befürchten, dass Muezzin-Rufe die Gesellschaft weiter polarisieren werden. Die Saat, die rechtspopulistische Parteien in Europa zwecks Stimmenfangs an den rechten Rändern jahrelang gestreut haben, trägt giftige Früchte. Wenn hingegen statt rechtsdemagogischer Propaganda gegen Muslime ein respektvolles Miteinander aller Religionen das politische Ziel wäre, könnte sich der Gebetsruf neben Autohupen, Straßenbahngebimmel und Glockengeläut harmonisch in urbane Klanglandschaften einfügen.