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Europa am Scheideweg

Von Beate Meinl-Reisinger

Gastkommentare
Beate Meinl-Reisinger ist Klubobfrau der Neos.

Der EU fehlt die Strategiefähigkeit.


Europa steht an einem Scheideweg. Aktuell entscheidet sich, ob wir in den nächsten Jahrzehnten Vorreiter oder Mitläufer sein werden. Während die digitale Transformation, befeuert durch die Pandemie, die Weltwirtschaft neu ordnet, führt der Krieg in der Ukraine zwangsläufig zu einer neuen globalen Sicherheitsarchitektur. Nur wenn Europa mit Strategie und Weitsicht vorgeht, werden wir in Zukunft auch echte Relevanz haben können. Dafür muss die Europäische Union zuerst einmal eine Strategiefähigkeit entwickeln.

Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg in der Ukraine hat allen sehr deutlich die Notwendigkeit einer echten EU-Sicherheits- und Verteidigungsstrategie vor Augen geführt. Wir weisen schon seit Jahren darauf hin, dass Europa sich weiterentwickeln muss, hin zu einer EU-Armee, die unser aller Sicherheit garantieren kann. Denn aktuell wird diese Strategie an die Nato und damit vor allem an die USA ausgelagert. Das Fehlen einer Strategie betrifft zudem nicht nur den Sicherheitsbereich, sondern zieht sich durch etliche Zukunftsthemen.

Europa hat enormes wirtschaftliches Potenzial - aber nur, wenn wir die kreative Energie unseres Kontinents auch entfesseln und die besten Köpfe aus aller Welt anziehen. Die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa ist aktuell so divers, wie die nationalen Regierungen es zulassen. Während manche Länder - wie die Niederlande - großen Wert auf internationales Talent legen, bleiben andere Länder - wie Österreich - zurück. Wir müssen unsere Wirtschaftskraft gemeinsam gegenüber China, Indien und den USA hinauffahren. Durch eine gemeinsame Wettbewerbs- und Standortstrategie kann sich auch eine Regierung, die selbst keine Zukunftsvisionen hat, an einem gemeinsamen Ziel orientieren.

Das Problem ist jedoch fundamentaler als bloß das Fehlen von Strategien. Die Europäische Union verfügt in ihrer aktuellen Form schlichtweg nicht über die notwendige Strategiefähigkeit. Das führt dazu, dass Europa in so vielen globalen Bereichen lediglich reagiert und so selten die Vorreiterrolle einnimmt. Denn mangels einer Strategiefähigkeit ist auch kein Weg in Sicht, eine eigene Vision zu formulieren. Das führt Europa automatisch in Abhängigkeiten, sei es von den USA, von China oder von Russland.

Der erste Schritt muss die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat sein. Insbesondere in Bezug auf eine notwendige gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik verhindert dieses Prinzip jegliche strategische Vorbereitung auf die sich wandelnde Weltordnung. Erst wenn die EU diese Strategiefähigkeit erlangt, wird sie auch das Selbstbewusstsein finden können, um eine globale Führungsrolle - wirtschaftlich wie sicherheitspolitisch - einnehmen zu können. Das muss unser Anspruch sein.

Jeden Dienstag lesen Sie an dieser Stelle den Kommentar eines Vertreters einer Parlamentspartei.