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Narrative, Bilder und Tabuzonen

Von Günther Marchner

Gastkommentare
Günther Marchner ist Organisationsentwickler, Sozialwissenschafter und Autor. Er hat Geschichte und Politikwissenschaften studiert und ist Gründungsmitglied der Consalis Entwicklungsberatung (www.consalis.at).
© Foto Flausen / Andreas Brandl

Der Krieg in der Ukraine zeigt auch das schwierige Verhältnis zwischen West- und Osteuropa.


Der Überfall der russischen Armee unter Wladimir Putins Führung auf einen souveränen europäischen Staat sowie das Reden über Europa, Russland und die Ukraine sollten zum Anlass genommen werden, einige verbreitete wie liebgewordene Narrative, Bilder und Tabuzonen zu thematisieren.

So gibt es zum Beispiel die Erzählung einer sich ausbreitenden Nato, die russische Reaktionen provoziere: Sie folgt der populären (wie oft unhinterfragten) Annahme von der Nato als militärischem Arm eines westlich-kapitalistischen Imperialismus unter Führung der USA, der sich ungerechtfertigterweise im ehemaligen sowjetischen Machtbereich ausdehne. Auch wenn man dem Westen imperiale Ansprüche wahrlich nicht absprechen kann - diese Erzählung ignoriert jene Entwicklung, die mit dem Zusammenbruch der UdSSR einsetzte: nämlich die Flucht- und Absetzbewegung ehemaliger Sowjetrepubliken und Satellitenstaaten vor dem Trauma der sowjetischen Herrschaft. Solange es ein Zeitfenster dafür gab, beeilten sich die baltischen Staaten oder zum Beispiel Polen aus freien Stücken, die Nato als Schutzschirm und die Europäische Union als Integrationsraum wahrzunehmen.

Entscheidend für den Krieg in der Ukraine ist ein politischer Wandel Russlands unter Präsident Putin hin zu einem autoritär-nationalistisch-faschistischen System. Damit in Verbindung steht das Trauma des Verlustes vergangener imperialer Größe, kombiniert mit der Vision der Wiederherstellung der "russischen Welt". Zu diesem System gehört vor allem eine Politik des permanenten Ausnahmezustandes und damit verbundener Bedrohungsszenarien (von innen: NGOs wie Memorial, von außen: Europa und die USA).

Lässt man die Entwicklung der 2010er Jahre Revue passieren, ist der gegenwärtige Überfall auf die Ukraine kein unvorhersehbares Ereignis, sondern die Konsequenz einer Entfremdung von einem liberaldemokratisch verfassten Europa hin zu einer aktiven Gegnerschaft. Ehemalige Sowjetrepubliken mit Westorientierung, und das war bei der Ukraine seit 2004 in wachsendem Ausmaß der Fall, sind aus Putins Perspektive unter Kontrolle zu bringen. Die Cyberangriffe der vergangenen Jahre, die Trollfabriken zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung, der Sieg von Putins Wunschkandidaten Donald Trump in den USA 2016, die Einflussnahme auf Wahlen und Abstimmungen (Brexit), die Korrumpierung europäischer Eliten und die Finanzierung rechtsradikaler und nationalistischer Parteien in Europa sind mit einer Absicht zusammenzufassen: der Destabilisierung und Schwächung der Europäischen Union.

Verteidigung und Neutralität als Tabus?

Ich bin mit Bildern des Pazifismus und der Neutralität aufgewachsen, die sich in dieser Lage zu einem "Salonpazifismus" und zu einer "Lebenslüge" zu verwandeln scheinen. Denn auch wenn wir davon ausgehen, dass der Vermeidung von Konflikten, dem Aufbau fairer Beziehungen, der Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit und der Diplomatie eine vorrangige Aufgabe vor militärischer Verteidigung zukommen soll - muss man nicht gleichzeitig auch über die Fähigkeit zur gemeinsamen militärischen Verteidigung Europas nachdenken und entsprechende Vorsorge treffen?

Aus dieser Perspektive ist auch Österreichs Neutralität, vor allem in ihrer derzeitigen bequemen wie schlampigen Praxis, durchaus zu hinterfragen. Wird unsere Souveränität nicht eher durch die Mitgliedschaft in der EU als durch unseren Staatsvertrag gewährleistet? Profitieren wir nicht von einer geografisch-politischen Konstellation, umgeben von befreundeten Nato-Staaten? Aber welchen Beitrag leisten wir dafür? Wenn wir uns schon einer Welt der Rechtsstaatlichkeit, individuellen Freiheit und liberalen Demokratie verpflichtet fühlen, welche Art von Neutralität wollen wir denn praktizieren - gegenüber einem Konflikt zwischen autoritärer Herrschaft und Demokratie?

Ostmittel- und Osteuropa als blinder Fleck

Die Bildung neuer Nationalstaaten aus den Zerfallsprozessen von Imperien begleitet Europa seit 1918. In manchen Fällen sind nationalstaatliche Entwicklungen als "Zerfallsprodukte" durchaus problematisch. Aber die Existenz der Ukraine wurde bis zur Orangen Revolution 2004 quasi ignoriert. Und in vielen Gesprächen seither wurde dieses Land vorrangig mit Nationalismus und Korruption in Verbindung gebracht. Dieses Narrativ ignoriert, dass die Ukraine mehr als andere durch Mehrsprachigkeit und Multikulturalität und vor allem vom Bemühen geprägt ist, der wiederkehrenden Gefahr einer autokratischen Herrschaft und eines Status als Vasallenstaat zu entkommen, und sich deshalb nach Europa orientiert.

Unsere gewohnte österreichische Perspektive und auch die westeuropäische insgesamt entsprechen nicht jener unserer mittelost- und osteuropäischen Nachbarn. Die Differenz zwischen dem wohlhabenden westlichen und dem ärmeren östlichen Europa ist nicht kleiner geworden. Man ist nach 1989 naiv bis vorsätzlich von den Heilungskräften des Marktes ausgegangen, der die Politik ersetzen und zu einer wundersamen demokratischen Transformation nach westeuropäischen Vorbildern und zum vielzitierten "Ende der Geschichte" führen sollte. Diese Entwicklung zog in der Folge nicht nur blühende Landschaften, sondern auch problematische Verwerfungen nach sich.

Der Glaube an eine derartige "Transformationsautomatik", aber vor allem eine verbreitete Ignoranz und ein Desinteresse gegenüber unserer östlichen Nachbarschaft haben letztlich zu zwei Kategorien von EU-Mitgliedern geführt, die auch die bisherige Dynamik (Stichwort: Visegrad) - die Schaffung von Gewinnern und Verlierern und die Bildung nationalistischer und populistischer Parteien - mitzubestimmen scheinen. Mittelost- und Osteuropa scheinen jene Zonen zu sein, wo man in der Regel nicht auf Urlaub hinfährt und wo man die Geschichte der Länder nicht kennt, die man auch in der Regel als ärmer und rückständiger wahrnimmt.

Das hat dem gegenseitigen Verhältnis nicht gutgetan. Aber vor allem wurde von uns allen das Verhältnis zu Russland unterschätzt. In einer Phase, als dieser Nachfolgestaat der Sowjetunion dabei war, sich neu zu orientieren, und als es durchaus Optionen und Zeitfenster dafür gab, wurde es verabsäumt, mehr für eine gemeinsame europäische Entwicklung und Sicherheitsarchitektur zu tun, anstatt seit gut 20 Jahren mit Ex-KGB-Netzwerken und Oligarchen Geschäfte zu machen und Beziehungen zu pflegen.

Das Narrativ des dekadenten Westens

Die Überfülle an Konsumgütern und ein ressourcenaufwendiger Lebensstil lassen viele von uns vor unserer eigenen Gesellschaft grausen. Wir halten unser Gesellschaftsmodell in sozialer und ökologischer Hinsicht wohl zu Recht für nicht zukunftsfähig. Dazu gesellt sich eine kritische Haltung zur westlichen Kultur. Wir sind allzu geneigt, wie Michel Houellebecq in manchen seiner Romane, ein dystopisches Bild des dekadenten Westens zu zeichnen, der seine eigene Wurzeln und Werte im Müll der Konsum- und Unterhaltungsindustrie verschüttet hat. Allerdings dient dieses Bild der westlichen Kultur, vor allem das Ausmaß an individueller Freiheit, rechtsradikalen und islamistischen Reinheitsgeboten und auch den Vorstellungen autokratischer Regime wie Putins Russland als wahres Feindbild.

Der Psychoanalytiker und Publizist Carlo Strenger hat in einem bemerkenswerten Essay ("Abenteuer Freiheit") darauf hingewiesen, dass wir dabei sind, die kulturellen Grundlagen einer freien und modernen Gesellschaft zu verlieren, die den Westen im Grunde ausmachen: nämlich die individuelle Freiheit von Zwängen (der Religion, der Tradition, der Obrigkeit), die liberaldemokratische Verfassung und die Möglichkeit zur autonomen Gestaltung einer Lebensart. Es geht eben nicht nur um die Freiheit, alles konsumieren und sich gut unterhalten zu können, sondern auch um Freiheit als "Disziplin", als Lebenskultur.

Es scheint, dass viele von uns nicht mehr in der Lage sind, diese Werte selbstbewusst zu verteidigen, weil es dafür mehrheitlich kaum (noch) ein Bewusstsein gibt. Freiheit wird ausschließlich als Freiheit zum Konsum und als Möglichkeit zum Rückzug ins Private verstanden: als Freiheit, in Ruhe gelassen zu werden sowie keine Verantwortung für andere und keine Verpflichtungen übernehmen zu müssen. So erscheinen uns jene Ukrainer, die am Maidan 2014 und aktuell mit vollem persönlichem Risiko für "europäische Werte" eintraten und eintreten, ein wenig wie peinliche Romantiker. Aber vielleicht verdrängen wir damit etwas, weil wir es nicht ertragen können, dass sie an etwas appellieren, von dem wir kaum noch in der Lage sind, es wahrzunehmen.

Das offizielle Selbstbild Europas und die Realität

Die Ukrainer zeigen uns mit ihrer Sehnsucht nach Europa als Gegenbild zum Leben in autoritären Verhältnissen, was sie von Europa erwarten. Sie scheinen uns zu zeigen, dass Europa vielleicht doch ein bisschen mehr ist als eine Konsum- und Wachstumsmaschine. Das offizielle Europa erscheint formal und in Sonntagsreden wahrlich als Paradies. Aber nicht nur die Ukrainer, sondern viele andere Menschen in Afrika und Asien nehmen die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit eines Kontinents wahr, der einerseits von universal verstandenen Werten wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechten spricht und sich andererseits in der nachkolonialen Tradition gegenüber seinen afrikanischen und asiatischen Nachbarn eben gar nicht so verhält.

Wenn schon von einer "Zeitenwende" die Rede ist, dann sollte dies vor allem auch für die Frage gelten, wie sehr Europa und der Westen in der Lage sind, eigenen Ansprüchen zu genügen. Nicht zuletzt wird sich das Gesicht Europas im Spiegel der Menschenrechte darin zeigen, ob man es schafft, zwischen den zahlreichen ukrainischen Geflüchteten und den anderen Geflüchteten afrikanischer und asiatischer Herkunft keinen Unterschied zu machen und dem Recht auf Asyl und Hilfe für alle Geltung zu verschaffen.

Gerade für eine Europäische Union, die als politisch-institutionelles System weltweit etwas Neues wie Einzigartiges darstellt und gleichzeitig universelle Ansprüche transportiert, wäre es wohl angemessen, über die Entwicklung einer Sicherheits- und Militärarchitektur hinaus mehr für die Schaffung einer übergreifenden Friedensordnung und sonstiger politischer "Innovationen" zu tun und sich nicht, wie in den vergangenen Jahren, als ängstliche Wagenburg zu verhalten. Man sieht jetzt, dass dies wohl keine Option ist.