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Produktivität ist der Schlüssel

Von Peter De Coensel

Gastkommentare

Trotz des großen technologischen Fortschritts scheinen wir heutzutage Schwierigkeiten zu haben, unsere Organisations- und Geschäftsmodelle an Innovationen anzupassen.


Die allgemeine Volkswirtschaftslehre geht davon aus, dass Inflation und Produktivität negativ korreliert sind. Die meisten OECD-Länder hatten in den 1970er Jahren eine niedrige Produktivität und eine hohe Inflation. In den USA beschleunigten sich die zaghaften Produktivitätsverbesserungen der 1980er in den 1990ern weiter, sodass der Durchschnitt um 2,5 Prozent über dem langfristigen US-Trendproduktivitätsniveau von 2,1 Prozent lag.

In diesem Jahrzehnt bewegte sich die Inflation auf einem für damalige Verhältnisse angenehmen Niveau zwischen 2 und 3 Prozent. Die Verbreitung digitaler Technologien sollte das Produktivitätswachstum in den USA ankurbeln, das ein hohes Niveau erreichte (zwischen 2,25 und 4,25 Prozent von 1998 bis 2005), aber zu einem Produktivitätsparadoxon führte, sodass das durchschnittliche Produktivitätswachstum im Zeitraum 2010 bis 2019 knapp unter 1 Prozent lag.

Die rasche Einführung digitaler Lösungen führte nur zu kurzzeitigen Produktivitätssteigerungen. Trotz des großen technologischen Fortschritts scheinen wir heutzutage Schwierigkeiten zu haben, unsere Organisations- und Geschäftsmodelle an Innovationen anzupassen. Produktivitätszuwächse durch Big Data, das Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz, Robotik oder 3D-Druck werden mehr Zeit benötigen, bevor sie sich auf die sich langsam entwickelnde realwirtschaftliche Produktivitätsvariable auswirken.

Es gibt eine Lehrmeinung, die den Mangel an Management- und allgemeinen IKT-Qualifikationen in den Unternehmen als den Hauptgrund für den Einbruch der Technologieverbreitung ansieht. Es liegt auf der Hand, dass der langfristige Rückgang des Produktivitätswachstums mit der Verlagerung von der verarbeitenden Industrie hin zu dienstleistungsorientierten Volkswirtschaften zusammenhängt. Um die Dinge noch komplizierter zu machen, stellen wir fest, dass der Durchschnittsverbraucher persönliche Dienstleistungen in Anspruch nimmt, die in den Bereichen Lebensmittel, Verkehr und Gastronomie eine geringe Produktivität aufweisen.

Der globale Produktivitätsschub von 2020 hielt nicht lange an. 2020 verzeichnete das BIP pro geleistete Arbeitsstunde - eine Standarddefinition der Arbeitsproduktivität - den stärksten Anstieg gegenüber dem Jahr davor seit den 1970ern: um 4,5 Prozent weltweit (USA: 2,6 Prozent). Das Produktivitätswachstum von 4,5 Prozent im Jahr 2020 verteilte sich auf die entwickelten Märkte (Industrieländer) mit 1,3 Prozent und die Schwellenländer mit 6,0 Prozent. Im Jahr 2021 pendelte sich das Produktivitätswachstum in den Industriestaaten bei 1,4 Prozent ein (USA: plus 1,2 Prozent, EU: minus 0,1 Prozent!).

Die Erwartungen für 2022 sind düster, da sich ein weiteres Jahr mit stagnierender Produktivität abzeichnet. Das BIP pro geleistete Arbeitsstunde wird heuer voraussichtlich um 0,2 Prozent sinken. Diese Rückgänge reichen von
minus 0,2 Prozent in den USA über minus 0,9 Prozent in Deutschland und minus 1,3 Prozent in Großbritannien bis minus 2,2 Prozent in Japan. Für die Schwellenländer wird ein enttäuschender Wert von plus 0,2 Prozent erwartet.

Langsameres Lohnwachstum

Angesichts der anhaltenden Lieferunterbrechungen, die eine Normalisierung der Inflation hinauszögern, und des Krieges in der Ukraine, der die wirtschaftliche Unsicherheit erhöht und das Verbrauchervertrauen schwächt, kann ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum nur durch ein deutlich höheres Produktivitätswachstum erreicht werden. Unternehmen, die bei steigenden Input- und Arbeitskosten wettbewerbsfähig bleiben wollen, müssen das Produktivitätswachstum durch Innovation, Umstrukturierung, digitale Transformation, Automatisierung, Effizienzsteigerung und Investitionen in neue Geschäftsmodelle vorantreiben.

Wenn es im kommenden Jahrzehnt wie im vorangegangenen nicht gelingt, die Trendproduktivität zu steigern, werden die Kosten der Geschäftstätigkeit steigen, da die Unternehmen mit einem raschen Anstieg der Lohnstückkosten konfrontiert sind. Um diesen Druck auf die Gewinnspannen auszugleichen, werden die meisten Unternehmen die Preise erhöhen müssen. Es ist zu erwarten, dass sich diese Entwicklung sowohl auf netzbasierte als auch auf traditionellere Geschäftsmodelle auswirken wird.

Letzten Endes wird die Verhandlungsmacht der Arbeitskräfte jedoch sinken, und sie werden angesichts des mangelnden Produktivitätswachstums ein langsameres Lohnwachstum akzeptieren müssen. Eine solche Anpassungsphase braucht Zeit, sodass die Inflation länger als erwartet anhalten könnte. Darüber hinaus wird ein langsameres Produktivitätswachstum zwangsläufig zu einem Rückgang der Gesamtnachfrage führen und die Inflation auf das derzeitige, weit entfernte Ziel von 2 Prozent oder darunter zurückführen.

Investitionssteigerung nötig

Kehren wir kurz zu den drei Komponenten zurück, die dem Produktivitätswachstum zugrunde liegen: erstens das Tempo, mit dem das Kapital pro Arbeitnehmer im Laufe der Zeit steigt; zweitens die Verbesserung der Qualität und der Qualifikationen der Arbeitskräfte oder des Humankapitals; drittens die Multifaktorproduktivität oder alles, was über die Kapitalvertiefung und die Verbesserung der Qualifikationen der Arbeitskräfte hinausgeht, was gemeinhin als Technologie- oder Innovationskomponente bezeichnet wird.

Beim technologischen Fortschritt sind Zeit und eine breite Akzeptanz die wichtigsten Faktoren für eine Produktivitätssteigerung. Doch auch bei den beiden anderen Komponenten werden wir mehr Gegenwind bekommen als erwartet. Dem Erfordernis einer Investitionssteigerung zur Steigerung der Produktionskapazität und letztlich des Potenzialwachstums einer Volkswirtschaft sollte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Der Kapitalstock geteilt durch das gesamte Arbeitsangebot ergibt das Verhältnis Kapital pro Arbeitnehmer. Dieses Verhältnis muss durch eine Erhöhung des Kapitalstocks (Anstieg der Nettoinvestitionen, also der um Abschreibungen bereinigten Bruttoinvestitionen) oder eine Verringerung des Gesamtarbeitsangebots steigen. Das Gesamtangebot an Arbeitskräften setzt sich aus dem Bevölkerungswachstum, der Erwerbsquote und der Nettozuwanderung zusammen. Die Erhöhung des Kapitalstocks wird durch eine hohe Sparquote und geringe Finanzierungskosten gefördert.

Steigt die Arbeitslosigkeit?

Liegt die Inflation weit über dem Durchschnitt, werden die Ersparnisse weniger wirksam, wodurch sich die finanziellen Bedingungen verschärfen und die Investitionsbereitschaft sinken könnte. Darüber hinaus besagt die Wirtschaftstheorie, dass die Grenzproduktivität der Investitionssteigerung sich zwangsläufig abflachen wird. Der Arbeitskräftemangel hält die Arbeitsmärkte derzeit in einem Zustand der Knappheit und der soliden Kapitalvertiefung. Da jedoch die Millennials immer mehr dominieren, dürften die Qualität des Arbeitsmarktes und das Gesamtangebot steigen.

Die zögerliche Einstellungsbereitschaft der Unternehmen könnte die Arbeitslosigkeit in die Höhe treiben. Die Kombination der oben genannten Trends könnte sich nicht positiv auf die Kapitalvertiefung auswirken, sondern im besten Fall zu einer Kapitalerweiterung und im schlimmsten zu einer Verringerung der Kapitalintensität führen. Bei der Kapitalerweiterung ist der Anstieg des Kapitalstocks ähnlich hoch wie der Anstieg der Erwerbsbevölkerung.

Insgesamt sind die Aussichten für das Produktivitätswachstum nicht so rosig, obwohl es ein wesentlicher Bestandteil ist, um die Auswirkungen der Inflation bei Gütern und Dienstleistungen abzumildern, insbesondere aber im Hinblick auf den Faktor der Kernlohninflation. An dieser Stelle sei Paul Krugman zitiert, der 1994 in seinem Buch "The Age of Diminished Expectations" schrieb: "Produktivität ist nicht alles, aber auf lange Sicht fast alles."

Die US-Notenbank Fed hält immer noch am langfristigen realen potenziellen BIP-Wachstum der USA von 1,8 Prozent fest. Die geleisteten Arbeitsstunden, der produktive Kapitalstock, die Qualität des Kapitals sowie Technologie und Innovation (Multifaktorproduktivität) müssen auf Hochtouren arbeiten, um möglicherweise real 1,8 Prozent zu erreichen. Die derzeitige Inflation ist eine schlechte Inflation, die die Kosten in die Höhe treibt. Es ist auch die Art von Inflation, die einer Produktivitätssteigerung nicht förderlich ist.