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Wahldemokratie Österreich?

Von Laurenz Ennser-Jedenastik

Gastkommentare

Weniger Befragte, schlechtere Einstufung - die empirischen Tücken einer Demokratie-Klassifizierung.


Eine mittlere Schockwelle rüttelte die öffentliche Debatte Anfang April durch: Österreich wurde im "Varieties of Democracy"-Ranking (V-Dem) der Universität Göteborg von einer liberalen Demokratie zu einer Wahldemokratie herabgestuft. Die mediale Rezeption war verheerend: Österreich sei nur noch "minimal demokratisch" titelte etwa Puls24. Hans Rauscher fragte sich im "Standard", ob Österreich eine "zweitklassige Demokratie" sei. Fritz Plasser, graue Eminenz der österreichischen Politikwissenschaft, forderte im Gespräch mit dem "Kurier" ein Demokratiereformpaket. Dem schloss sich die SPÖ im Nationalrat per Entschließungsantrag an. Die Ursachen für die V-Dem-Herabstufung waren ebenso schnell identifiziert: strukturelle Korruption, Stillstand beim Informationsfreiheitsgesetz, mangelnde Transparenz bei der Parteienfinanzierung, politischer Druck auf die Justiz, Inseratenaffäre.

Und ja: Bei vielen dieser Punkte liegen die Dinge in Österreich tatsächlich im Argen. Nur: Ob das Göteborger Demokratie-Ranking dafür als Beweis herhalten kann, ist fraglich. (Kurze Transparenzpassage: Der Autor dieser Zeilen ist selbst einer der mehr als 3.000 Experten, die das Göteborger V-Dem-Institut jährlich befragt - allerdings nicht für Indikatoren des Demokratie-Rankings.) Seitens der Ranking-Autoren heißt es über Österreichs Herabstufung zur Wahldemokratie relativ knapp, diese komme durch eine Verschlechterung beim Indikator für "transparente Gesetze mit berechenbarem Vollzug" zustande.

Um die Herabstufung genauer zu verstehen, muss man aber die Kategorisierung in liberale Demokratien, Wahldemokratien, Wahlautokratien und geschlossene Autokratien kurz empirisch auseinandernehmen. Als Wahl- oder liberale Demokratie kann ein Staat nur bei freien, fairen und demokratischen Wahlen mit ausreichend freiem Wettbewerb gelten. Alle diese Hürden nimmt Österreich in den "Varieties of Democracy"-Daten locker (2016 gab es vorübergehend einen minimalen Einbruch - wohl anlässlich der Probleme bei der Bundespräsidentschaftswahl).

Mehrheitlich Höchstwert

Um als liberale Demokratie klassifiziert zu werden, muss zudem sicherer und effektiver Zugang zum Recht für Männer und Frauen gegeben sein, ebenso Gleichheit vor dem Gesetz, Grundfreiheiten und eine Beschränkung der Macht der Regierung durch Parlament und Justiz. In den meisten dieser Teilbereiche gab es laut Ranking in Österreich seit 1955 sogar substanzielle Verbesserungen. Zu guter Letzt muss eine liberale Demokratie "transparente Gesetze mit berechenbarem Vollzug" aufweisen - und hier schnitt Österreich 2021 schlechter ab als zuvor. Erfasst wird dieser Teilindikator auf einer fünfteiligen Skala von "Transparenz und Berechenbarkeit sind praktisch nicht existent" (0) bis "Transparenz und Berechenbarkeit sind sehr stark ausgeprägt" (4).

Zumeist geben die vom V-Dem-Institut befragten Experten Österreich den Höchstwert 4. Seit 2005 mischt sich darunter auch immer wieder der Wert 3, wonach die Transparenz der Gesetze und die Berechenbarkeit des Vollzuges nur "ziemlich stark" ausgeprägt seien, nicht "sehr stark". Dies entsteht meist nicht dadurch, dass Experten von einem Jahr aufs andere ihre Einschätzung ändern, sondern dass neue befragt werden, die die Dinge etwas kritischer sehen.

Es stehen auch immer weniger Experten zur Verfügung: 2005 bis 2017 waren es neun oder zehn, 2021 nur noch zwei (!). Von den acht ausgeschiedenen Experten hatten fünf immer nur die Höchstnote 4 vergeben - da reichte es, dass einer der beiden übrigen nun von 4 auf 3 wechselte, schon war Österreich beim Indikator "Transparente Gesetze mit berechenbarem Vollzug" unter den Schwellwert für die Einstufung als liberale Demokratie gefallen.

Corona-Gesetze verbessert

All das bedeutet natürlich nicht notwendigerweise, dass diese Einschätzungen inkorrekt wären. Gerade in der Corona-Pandemie haben sich Gesetz- und Verordnungsgeber sowie vollziehende Behörden wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Allerdings hätten sich diese Defizite, wenn überhaupt, dann wohl schon im Ranking 2020 niederschlagen müssen. Glaubt man dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes, Christoph Grabenwarter, dann hat sich die Rechtsetzung zu Corona nämlich seither "erheblich" verbessert.

In Summe liegt die Herabstufung Österreichs zur Wahldemokratie also an schlechteren Werten bei einem Subindikator, der für das betreffende Jahr 2021 auf einer dürftigen empirischen Grundlage von zwei Experteneinschätzungen fußt. Die empirische Belastbarkeit dieser Einstufung kann man also getrost hinterfragen: Weniger Befragte bedeuten - wie bei Bevölkerungsumfragen - eine größere Unschärfe in der Messung und daher weniger Gewissheit über die Verlässlichkeit der Ergebnisse.

Wiewohl die Daten des V-Dem-Instituts in der Politikwissenschaft hochgeschätzt sind und die Qualität von Erhebung und Dokumentation die meisten medial kursierenden Rankings bei weitem in den Schatten stellt (die oben durchgeführte Detailanalyse wäre beim Großteil existierender Indizes mangels Datentransparenz überhaupt nicht möglich), kann man den Autoren des Rankings sicher die Frage stellen, warum medial breit rezipierte Kategorisierungen auf der dünnen empirischen Basis von zwei Experteneinschätzungen ohne Warnhinweis veröffentlicht werden.

Problematische Abstufung

Ein weiteres Problem ist, dass Rankings, die kontinuierlich skalierte Indexwerte in feststehende Kategorien (liberale Demokratie, Wahldemokratie) übersetzen, irreführend sein können. In der Realität ist der Übergang von der liberalen zur Wahldemokratie fließend. Gerade das Beispiel Ungarn zeigt, dass Autokratisierung ein steter Prozess ist und nicht an einem einzelnen Ereignis oder Schritt festzumachen.

Zuletzt zeigt die Rezeption des "Varieties of Democracy"-Reports in Österreich, dass Rankings und Indizes gerne zur Unterstützung eigener politischer Standpunkte herangezogen werden, selbst wenn der empirische Konnex zwischen dem, was ein Index misst, und dem, was davon ausgehend als politische Forderung formuliert wird, oft kaum vorhanden ist. Springt man auf diesen Zug auf, kann das mittelfristig auch zum politischen Eigentor werden: Stellen wir uns vor, die V-Dem-Einstufung würde kommendes Jahr wieder zu den Werten von 2020 zurückkehren - Österreich wäre wieder eine liberale Demokratie, nicht mehr eine Wahldemokratie. Nichts von all den Problemen, die unser politisches System schon Jahr und Tag plagen - Intransparenz, Freunderl- und Parteibuchwirtschaft, Inseraten- und anderweitige Korruption, mangelnde Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft - wäre auch nur im Ansatz gelöst.