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Was will der Westen?

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Eine Niederlage der Ukraine zu verhindern, ist kein ausreichend klares Kriegsziel für EU und USA.


Was Russland mit seinem Krieg gegen die Ukraine will, ist ziemlich klar: am liebsten die staatliche Existenz der einstigen Sowjetrepublik zu beenden. Wenn das nicht geht, wenigstens einen Teil des ukrainischen Staatsgebietes zu annektieren. Und auf eine Gelegenheit zu warten, wieder zuzuschlagen. So weit, so klar. Viel weniger klar ist hingegen, was eigentlich das Kriegsziel der westlichen De-facto-Konfliktparteien ist.

Ohne Ziel aber ist schwer zu bestimmen, wann der Konflikt beendet werden kann - diesfalls droht eine unkontrollierte Eskalation ohne Plan und Endpunkt. Der Westen hat diesen Fehler im Zuge der Jugoslawien-Kriege begangen.

Einig waren sich die Westmächte von Anfang an darin, was sie verhindern wollen: eine schnelle Kapitulation Kiews und einen damit verbundenen Triumph Putins. Eher uneinig sind sich die Nato-Staaten aber in der Frage, was ihr eigentliches Kriegsziel sein soll. Lloyd Austin, der amtierende US-Verteidigungsminister, hat jüngst dazu gemeint: "Wir wollen Russland in einem Maße geschwächt sehen, das es dem Land unmöglich macht, zu tun, was es in der Ukraine mit der Invasion getan hat."

Wesentlich unverbindlicher formuliert es der deutsche Kanzler Olaf Scholz: "Putin darf diesen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnen - und er wird diesen Krieg auch nicht gewinnen." Was "nicht gewinnen" in der Praxis heißt, lässt Scholz im Ungewissen.

Klarer ist da die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Sie sagt, dass alle russischen Soldaten die Ukraine verlassen müssten - also auch die 2014 annektierte Halbinsel Krim, was schon eine sehr weitreichende Forderung ist. Die allerdings von den Briten geteilt wird, deren Außenministerin Liz Truss recht hemdsärmelig formulierte, Kriegsziel der Regierung Ihrer Majestät sei, die Russen "aus der ganzen Ukraine" zu vertreiben. Was Frankreichs Präsident Emanuel Macron ganz anders sehen dürfte, wenn er darauf hinweist, dass Putin keine "Demütigung" zugefügt werden dürfe. Und erst recht der greise Henry Kissinger, der dieser Tage riet, die Ukraine möge Territorium an Putin abtreten.

Vielleicht wäre es nicht die schlechteste Idee, das Kriegsziel des Westens daran anzupassen, was der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in diesem Zusammenhang erstaunlich zurückhaltend formuliert hat. "Das Minimum ist, unsere Gebiete mit dem Stand vom 23. Februar wiederzubekommen", sagte er gegenüber dem britischen Thinktank "Chatham House" mit Blick auf den Start der Invasion am 24. Februar. Das würde die Halbinsel Krim ausklammern.

Herrn Selenskyjs Forderung läuft darauf hinaus, dass Russland nach dem Krieg nicht stärker sein darf - etwa durch territoriale Zugewinne - als vorher, weil nur dann eine gewisse Gewähr besteht, dass Putin es nicht so bald wieder versuchen wird. Oder an einer anderen Front einen Konflikt vom Zaun bricht.

Ein derart maßvolles Kriegsziel des Westens würden wohl extreme Bellizisten als ungenügend und lau denunzieren - aber dafür wäre es realistisch, angemessen und vermutlich auch ohne die Gefahr extremer Eskalation zu erreichen.