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Boris, der Überlebenskünstler

Von Philip Plickert

Gastkommentare
Philip Plickert ist Wirtschaftskorrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in London.
© privat

Trotz aller Affären sitzt der britische Premier Johnson noch in der Downing Street, doch der Druck in seiner Partei steigt.


Kontinentaleuropäische Beobachter der britischen Politik konnten in den vergangenen Monaten oft nicht entscheiden, ob sie einer Tragödie oder einer Komödie beiwohnten. Lachen und Weinen lagen in London nahe beisammen. Partygate, Beergate, Currygate - immer länger wurde die Liste der Skandale und Skandälchen, die Premier Boris Johnson und Oppositionsführer Keir Starmer in Atem hielten, während in Europa ein Krieg ausbrach und Großbritannien nun ebenso wie andere Länder unter der höchsten Inflation seit 40 Jahren stöhnt.

Johnson kämpft seit Monaten ums politische Überleben. Die Vorwürfe wegen mehrerer Partys, die in der Downing Street mitten in der Corona-Pandemie gefeiert wurden, während sich die normalen Bürger an drakonische Lockdown-Regeln halten mussten, hinterlassen tiefe Kratzer an seinem Image. Wundersamerweise hat der Brexit-Premier die Affäre bisher politisch überlebt. Auch den vorige Woche publizierten Bericht der Beamtin Sue Gray, der "ein Versagen der Führung" am Regierungssitz feststellte und peinliche Details enthielt: exzessiver Alkoholkonsum bis in die Morgenstunden, Rotweinspritzer an den Wänden, rüdes Benehmen gegenüber Reinigungspersonal. "Einem Individuum wurde schlecht", notierte Gray - die britisch-vornehme Umschreibung für: Jemand musste kotzen.

Der Krieg ließ Johnsons außenpolitische Statur wachsen

Johnson gab sich zerknirscht, doch an einen Rücktritt denkt er nicht. Man müsse ihn schon "aus dem Gebäude rauszerren", hat er Vertrauten gesagt. Labour-Chef Starmer hingegen hat angekündigt, er werde zurücktreten, wenn die polizeilichen Ermittlungen wegen seines spätabendlichen Zusammenseins mit Parteifreunden im April 2021 mit Bier und Curry in Durham (Beergate/Currygate) in eine Geldbuße münden sollten. Mancher in der Tory-Partei drückt Starmer indes die Daumen, dass er bleibt: Der Jurist gilt als seriös, doch ebenso langweilig. Kein Oppositionsführer, der seine Partei oder die Wähler mitreißt. Labour hat bei den Kommunalwahlen im Mai zwar zugelegt, aber eher bescheiden. Mehr Sorgen macht den Konservativen jetzt der Vormarsch der Liberaldemokraten in südenglischen Wahlkreisen. Sie befürchten, von zwei Seiten in die Zange genommen zu werden.

Mindestens zwanzig Abgeordnete der Tories fordern inzwischen ein Misstrauensvotum gegen Johnson. Bei 54 Briefen an das "1922 Committee" müsste er sich der Abstimmung stellen. Die genaue Zahl der schon eingegangenen Briefe ist geheim. Aber der Druck könnte in den nächsten Wochen weiter steigen, etwa wenn wichtige Nachwahlen in zwei Wahlkreisen im Juni krachend verlorengehen.

Der einstige Glückspilz "Bojo", wie ihn Freunde nennen, hat sein "Mojo" (seinen Glücksbringer) verloren. Doch hatte er immer noch Glück im Unglück. Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar brachte allerdings eine entscheidende Wende, denn durch sein beherztes Auftreten an der Seite der Ukraine hat sich Johnson Respekt über Parteigrenzen hinweg verschafft. Die britischen Geheimdienste und das Militär sind in besserer Form als in manchen EU-Ländern. Johnsons außenpolitische Statur ist in den Kriegszeiten gewachsen. Freilich ist er noch kein zweiter Churchill.

Explodierende Lebenshaltungskosten

Und außenpolitische Themen bewegen dann doch nicht die Wählermassen, dies sind eher andere Fragen, wie Johnsons Berater Isaac Levido vorrechnet: In Nordengland wünschen die Brexit-Wähler mehr Mittel für den Gesundheitsdienst NHS und eine schärfere Asylpolitik (daher das von Innenministerin Priti Patel vorangetriebene Ruanda-Abkommen zur Deportation illegaler Immigranten nach Afrika). In Nordirland köcheln die Post-Brexit-Probleme mit dem EU-Protokoll, das eine Zollgrenze in der Irische See schafft und Importe aus Großbritannien erschwert. Der Streit darüber lähmt die Regionalregierung in Belfast. Johnson und seine Außenministerin Liz Truss haben noch nicht letztgültig entschieden, ob sie die ganz große Konfrontation mit der EU wagen sollen, um das Protokoll neu zu verhandeln.

Topthema für das ganze Land ist indes die Krise durch explodierende Lebenshaltungskosten. Die Inflationsrate ist schon auf 9 Prozent gestiegen und dürfte im Herbst über 10 Prozent springen, wenn die Energierechnungen nochmals um bis zu 800 Pfund je Haushalt steigen. Einen Tag nach der Publikation des Gray-Reports legte Finanzminister Rishi Sunak ein großes 15-Milliarden-Pfund-Entlastungspaket vor, das ärmeren Haushalten bis zu 650 Pfund Zuschüsse zur Energierechnung bringt. Im Gegenzug müssen Öl- und Gas-Konzerne wie BP und Shell eine Sondergewinnsteuer (Windfall Tax) zahlen, die ihre außergewöhnlichen Rekordgewinne abschöpft.

Dass die Konservativen, die einst als Partei von Margaret Thatcher auf niedrige Steuern und schlanken Staat schworen, heuer mehrere Steuern erhöht haben, unter anderem die Sozialabgaben, wühlt die Seele der "Low-Tax"-Tories auf. Die Partei habe "ein massives Identitätsproblem", sagt der frühere Vorsitzende Ian Duncan Smith. Der Kommentator Daniel Finkelstein fragt in der "Times", ob die Partei überhaupt noch wisse, wofür sie stehe: für niedrige oder hohe Steuern, für viel oder wenig Staatstätigkeit?

Seit Monaten, seit den Partygate-Wirren, liegen die Tories in Umfragen fünf bis sieben Punkte hinter Labour zurück. Geraten die Abgeordneten in Panik, dass die nächste Parlamentswahl - regulärer Termin: Ende 2024 - nicht mehr zu gewinnen wäre, könnte die fraktionsinterne Revolte gegen den Premier eskalieren. Johnsons Glück ist bisher, dass die Rebellen über keinen offensichtlichen Nachfolgekandidaten verfügen. Rishi Sunak, der junge und smarte Schatzkanzler, schien in der Corona-Zeit zum Kronprinzen zu reifen. Doch sein Polit-Stern ist verglüht. Ein fragwürdiger Steuerstatus seiner schwerreichen indischen Ehefrau kostete ihn viele Sympathien, in der Lebenshaltungskostenkrise warf man ihm mangelnde Hilfen vor. Ohne einen starken Herausforderer, der Johnson vom Thron zu stürzen vermag, wird sich dieser wohl noch eine Weile halten können.