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Das Selbstbild der Kreml-Herren

Von Alexander Dubowy

Gastkommentare
Alexander Dubowy ist Forscher im Bereich Internationaler Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum.
© Prokofief

Einblicke in die kafkaeske Denkweise der russischen Führungsriege.


Am 24. Mai gab der langjährige einflussreiche Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Nikolaj Patruschew, der meistgelesenen russischen Wochenzeitung "Argumenty i fakty" ein langes Interview. Es war das zweite längere Gespräch Patruschews mit einem führenden staatsnahen russischen Medium innerhalb nur eines Monats. In Anbetracht seiner starken Medienpräsenz dürfte Patruschew, der wie Präsident Wladimir Putin aus Sankt Petersburg kommt und dem Geheimdienst entstammt, für sich die Rolle des Chefdeuters und Ideologen des Ukraine-Krieges, den er als einen hybriden Stellvertreterkrieg gegen den Westen sieht, auserkoren haben.

Die US-Regierung gebe zwar vor, weltweit für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie zu kämpfen, setze aber in Wirklichkeit die "Doktrin der Goldenen Milliarde" um, behauptete Patruschew. Demnach könne nur eine begrenzte Anzahl von Menschen - vorwiegend in den USA und in Europa - Wohlstand erreichen. Das Schicksal der anderen - so auch der Ukraine - bestehe darin, dieser Zielsetzung dienlich zu sein. Auch sei es gut möglich, so Patruschew, dass das Coronavirus in den Labors des Pentagons mit Unterstützung transnationaler Pharmakonzerne künstlich erzeugt worden sei. Die den Familien Clinton, Rockefeller, Soros und Biden nahestehenden Stiftungen hätten daran mitgewirkt.

Auf die Frage nach dem Ende der "Spezial-Militäroperation", wie der Kreml seinen Krieg in der Ukraine nennt, betonte Patruschew, dass es keine Zeitvorgaben aus Moskau geben werde. Vielmehr müsse "der Nazismus in der Ukraine zu 100 Prozent ausgerottet werden", damit dieser nicht in wenigen Jahren zurückkehre. Auch habe Russland das Recht, vom "kriminellen Kiewer Regime" und von den dieses unterstützenden Staaten Reparationszahlungen zu verlangen. Im Gegensatz zum Weißen Haus habe der Kreml niemals Terrormilizen unterstützt, sondern ausschließlich legitimen Regierungen in der Stunde der Not geholfen. So habe Russland beispielsweise den USA während des amerikanischen Bürgerkrieges (1861 bis 1865) geholfen, Frankreich beim Wiener Kongress (1814/1815) vor endgültiger Erniedrigung bewahrt und selbst nach 1945 die Auflösung Deutschlands in mehrere Teilstaaten verhindert. Letztlich hätten auch Polen und Finnland Russland ihre Staatlichkeit zu verdanken. Die Ausdehnung der militärischen Infrastruktur der Nato auf Finnland und Schweden werde Russland als Bedrohung empfinden und sich zu Reaktionen gezwungen sehen.

Mit diesem Interview gewährte Patruschew einen unverhüllten Blick in die kafkaesken - vom rational-objektiven Standpunkt - unergründlichen Untiefen der politisch-strategischen Erfahrungswelten sowie das Selbstbild des Kreml. Dabei legte er unbeabsichtigt die wahre Natur des selbstreflexiven geopolitischen Autismus in Moskau als einen durch Zerfallstraumata und Einkreisungsobsessionen sowie faktenwidrige Geschichtsinterpretation bestimmten primitiven Isolationismus offen. Dieser dient der überalterten russischen Führungsriege als pseudointellektuelles Fundament zur Rechtfertigung des wohl letzten imperialistischen Aufbäumens Russlands.