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Rettet das Rechnen!

Von Ernst Smole

Gastkommentare
Ernst Smole war Berater der Unterrichtsminister Fred Sinowatz, Helmut Zilk und Herbert Moritz. Er ist Musikkindergärtner und Koordinator des "Bewegungs- und Unterrichtsplans für Österreich 2030".
© privat

Die Mathematik in der Schule braucht dringend eine Reform.


Eine unlösbare Aufgabe bei der Mathematik-Kompensationsprüfung zur Zentralmatura sorgt für Schlagzeilen. Angesichts der Schwierigkeiten, die auch sonst Schüler mit Mathematik haben, wird sogar diskutiert, ob man das Fach nicht abwählen können sollte. Eines steht fest: Der Mathematikunterricht muss sich ändern, andernfalls wird er seine Existenzberechtigung als verpflichtender Unterrichtsgegenstand verlieren. Es spricht Bände, wenn ein promovierter Chemiker berichtet, er habe die Mathematik-Matura "nur mit viel Auswendiglernen und wenig Verstehen" geschafft und später bei seiner Tochter "nach der 6. Klasse aufgegeben", oder wenn ein Universitätsprofessor für Mathematik zugibt: "Das, was wir verlangen, ist, als müsste bei der Musik-Matura jeder ein Violinkonzert von Mozart spielen - nicht leistbar und sinnlos!"

Aber wie kam es dazu, dass die Angst vor diesem Fach Schülern, Eltern und sogar Lehrern die Schulfreude vergällt, dass die Nachhilfe boomt wie nie zuvor und die Unis eigene Vorbereitungskurse zum Nachholen des Stoffs der Pflichtschule (!) anbieten? Im 19. Jahrhundert fand die Mathematik als letztes Fach gegen erhebliche Widerstände insbesondere der Altphilologen Eingang ins Gymnasium und wurde seither - befeuert durch die Industrialisierung - ungeplant zum das Schulgeschehen massiv prägenden Moloch. Generationen von Mathematiklehrern empfanden ihr (Angst-)Fach als das wichtigste.

Eine Aufteilung in zwei Züge ab dem 12. Lebensjahr - höhere Mathematik für die 10 Prozent mathematisch besonders Interessierten und Hochbegabten sowie lebens- und alltagsbezogenes Rechnen auf bestem Niveau für alle anderen - würde der Mathematik ihr Angstpotenzial nehmen, flächendeckend kompetente "Alltagsrechner" hervorbringen und den Unis und in der Folge der Wirtschaft hoch kompetente Studierende und Mitarbeiter bescheren, die sowohl das Rechnen als auch die Mathematik optimal beherrschen. Der Fachkräftemangel nähme deutlich ab, mehr Menschen als bisher wären in ihren individuellen Wunschberufen tätig.

Freude an der Mathematik kann entstehen, wenn motivierte, weil von der Sinnhaftigkeit ihres Tuns überzeugte Lehrer Ausflüge in die bunte und wechselhafte Geschichte des Rechnens unternehmen - vom Kerbholz-Rechnen der Steinzeit über das streng gehütete Amtsgeheimnis der Stadtschreiber im Mittelalter bis zur heutigen überschießenden schulischen Zwangsbeglückung. Als eine Form des Schreibens ist das Rechnen eine unverzichtbare Schule der Abstraktionsfähigkeit. Intelligenz bedeutet Erkenntnisfähigkeit, die sich ohne Abstraktionskönnen nur wenig entfalten kann. Studien zeigen, dass sich in Klassen, in denen täglich eine Stunde lang hochkonzentriert Texte gelesen werden, auch signifikant besser gerechnet wird.

Es gilt, die Schule von historischen Lasten - und damit vom Mathematik- und Rechenfrust - zu befreien, statt eine Debatte über das Abwählen dieser so unverzichtbaren Säule unserer Zivilisation zu führen.