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Die Gesundheitsversorgung muss die Menschenrechte achten

Von Peter G. Kirchschläger

Gastkommentare
Peter G. Kirchschlägerist Ordinarius für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik an der Universität Luzern. Er berät Organisationen und Institutionen wie UNO, Unesco, OSZE, EU, Europarat sowie verschiedene Unternehmen und NGOs in ethischen Fragen.
© Universität Luzern

Wie risikoreich ist die digitale Transformation der Medizin und Pflege?


Die Hälfte der Menschen auf dieser Welt hat keinen Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung. Die digitale Transformation von Medizin und Pflege eröffnet die Möglichkeit, den Zugang zur Gesundheitsversorgung weltweit zu verbessern, was aus ethischer Sicht positiv ist. Unter anderem bilden internetgestützte Gesundheitskommunikation, Gesundheitskommunikation mit datenbasierten Systemen, Telemedizin sowie medizinische Online-Konsultationen diesbezügliche digitale Optionen. Gleichzeitig bergen solche Vorhaben aus ethischer Sicht Risiken hinsichtlich der Menschenrechte auf Privatsphäre und Datenschutz - insbesondere in Bezug auf die informationelle Selbstbestimmung.

Zweckgebundene Datennutzung

Zur Veranschaulichung dient folgendes Beispiel: Wenn man zum Arzt geht, gibt man persönliche Daten an, damit dieser weiß, wen er vor sich hat, und teilt ihm die eigene Krankheit mit, um Heilung zu erfahren, ohne dass der Arzt diese Daten weiterverkaufen darf. Als Patient bekommt man auch nicht das Angebot unterbreitet, diese Daten zu verkaufen, um eine bessere medizinische Behandlung zu erhalten. Der Arzt muss das Patientendossier mit der Krankengeschichte streng vertraulich aufbewahren - ausschließlich zum Zweck einer besseren Behandlung des Patienten. Auch besteht die Möglichkeit der Weitergabe vollkommen anonymisierter Daten zu Forschungszwecken, sofern der Patient dieser Weitergabe informiert zustimmt.

Eine "zweckgebundene Datenverwendung" könnte diesbezüglich eine Lösung sein, die das Vorantreiben der digitalen Transformation von Medizin und Pflege menschenrechtsbasiert ermöglicht. Ausführlichere Informationen finden sich beispielsweise im Buch "The Age of Surveillance Capitalism" von Shoshana Zubof und in meinem neuesten Buch "Digital Transformation and Ethics. Ethical Considerations on the Robotization and Automation of Society and the Economy and the Use of Artificial Intelligence" (Nomos-Verlag 2021).

Entpersonalisierte Medizin und Gesundheitsversorgung

Ein weiterer Anknüpfungspunkt der digitalen Transformation in der Medizin und Gesundheitsversorgung ist die Elektronische Gesundheitsakte (Elga), die dezentral abgespeichert wird, um eine personalisierte, unabhängigere, präzisere, effizientere, effektivere und mobile Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Diese Unternehmung kann der Verwirklichung des Menschenrechts auf Zugang zur Gesundheitsversorgung dienen, gleichzeitig dürfen wir jedoch das Ziel dieser technologiebasierten Veränderungen nicht vergessen: Die digitale Transformation der Medizin und Pflege dient dem Ziel der Effizienzsteigerung.

Im Fokus steht nicht, bessere Medizin und Gesundheitsversorgung zu erreichen, sondern eine profitablere. Mit der vermeintlichen Personalisierung der Medizin und des Gesundheitswesens geht deshalb das Risiko einher, die Individualität aller Menschen zu gefährden, indem man sie alle zu einer Gesundheitsgruppe oder Risikogruppe zusammenfasst und den einzelnen Menschen vernachlässigt. Diese Art von "personalisierter" Medizin und Gesundheitsfürsorge setzt auf eine algorithmische Analyse der Profile von Patienten, statt auf eine persönliche medizinische Untersuchung. Nicht der einzelne Mensch ist für die personalisierte Medizin und Gesundheitsversorgung von Interesse, sondern seine Daten und Zahlen und/oder seine Muster.

Dies wäre aus ethischer Sicht problematisch. Das Individuum wird dabei zu einem Knotenpunkt in einem datenbasierten Netzwerk von Daten. Vermeintlich "personalisierte" Medizin und Gesundheitsversorgung ist als entpersonalisierte Medizin und Gesundheitsversorgung oder entmenschlichte Medizin und Gesundheitsversorgung zu entlarven: Nicht der einzelne Mensch, sondern seine Daten und Zahlen beziehungsweise seine Muster stehen im Mittelpunkt. Auch der Prozess der Medizin und Pflege selbst wird entpersonalisiert und entmenschlicht, indem möglichst viele Bereiche durch datenbasierte Systeme automatisiert werden - ohne menschliche Interaktion. Diese Entpersönlichung und Entmenschlichung erweist sich, unter Bezugnahme auf die Menschenwürde und die Menschenrechte, als ethisch problematisch und muss vermieden werden.

Internationale Agentur für datenbasierte Systeme

Es braucht daher eine globale Aufsichts- und Zulassungsinstitution im Bereich der datenbasierten Systeme bei der UNO - analog zur Internationalen Atomenergiebehörde IAEA -, um die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte zu garantieren; eine Internationale Agentur für datenbasierte Systeme. Diese sollte das zentrale zwischenstaatliche Forum für die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit im Bereich der digitalen Transformation und datenbasierter Systeme sein.

Die Menschheit hat in ihrer Vergangenheit bereits gezeigt, dass sie in der Lage ist, nicht immer "blind" und auf Effizienz und Profit ausgerichtet das technisch Mögliche zu verfolgen, sondern auch auf das technisch Machbare zu verzichten oder es zu beschränken, wenn es um das Wohl der Menschheit und des Planeten Erde geht - beispielsweise im Bereich der Kerntechnik. Dieses Mindset wäre auch im Bereich der Medizin und Pflege wünschenswert.