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"Unsere Kultur geht auf keine Kuhhaut"

Von Michael Wimmer

Gastkommentare
Michael Wimmer ist Gründer und Direktor des Forschungsinstituts Educult sowie an der Universität für angewandte Kunst, der Universität für Musik und darstellende Kunst und der Universität Wien tätig. Er war Mitglied der Expertenkommission des Unterrichtsministeriums zur Einführung der Neuen Mittelschule und hat auch den Europarat, die Unesco und die EU-Kommission beraten.
© Petra Rautenstrauch

Ein weitgehend aus dem 19. Jahrhundert stammendes Kulturbetriebssystem ist an ein Ende gekommen.


Das Zitat im Titel stammt von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1997. Ich weiß nicht, ob sich der deutsche Dichter dabei auf den mittelalterlichen Mythos bezogen hat, wonach der Teufel die Verfehlungen eines Menschen auf eine Kuhhaut schreiben würde, und je länger das Sündenregister ausfiele, desto wahrscheinlicher sei es, im Höllenfeuer zu landen. In Bezug auf den Kulturbetrieb wollte er damit wohl ausdrücken, dass dieser zusammen mit der ihn steuernden Kulturpolitik die Grenzen der Möglichkeiten erreicht habe und ohne einen tiefgehenden Transformationsprozess schon bald seine Existenzgrundlagen verlieren könnte.

Enzensbergers Warnruf verhallte damals, vor 25 Jahren, weitgehend ungehört. Es bedurfte erst einer weltweiten Pandemie, um nochmals in aller Drastik vor Augen zu führen, dass ein weitgehend aus dem 19. Jahrhundert stammendes Kulturbetriebssystem an ein Ende gekommen ist und alle Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr in eine alte Normalität sich schon bald als trügerisch erweisen könnten. Seither erreichen uns fast täglich neue Horrormeldungen über einbrechende Publikumszahlen.

Viele, vor allem freischaffende Künstlerinnen und Künstler haben mit dem Verlust ihrer öffentlichen Präsenz dem Betrieb gleich ganz den Rücken gekehrt. Dazu kommt die zunehmende Diversifizierung der Stadtgesellschaften ebenso wie die Durchdringung der letzten Winkel unserer Gesellschaft durch die digitalen Medien. Diese Dynamiken erschüttern die Kulturvorstellungen breiter Teile der Gesellschaft ebenso wie die vielfältigen Verunsicherungen durch Krieg, Migration, Klimawandel, Armut und soziale Ungleichheit oder Inflation.

Das alles hinterlässt beträchtliche Wirkungen auch im Kulturbetrieb, der in diesen Tagen die größte Existenzkrise seit 1945 erfährt. Entsprechend groß ist der Widerstand so mancher Beharrungskräfte, die Kulturpolitik als ein weitgehend additives Verfahren lieben gelernt haben, das auf strukturelle Veränderungen verzichtet und Fragen der Umverteilung trotz systemischer Ungleichbehandlung möglichst vermieden hat. Mit dem Alibi der Autonomie der Kunst sollten möglichst keinerlei Schwerpunkte gesetzt werden.

Von der Integration zur Selektion

Seit den 1970er Jahren hat sich ein ausdifferenziertes Kunst- und Kulturfördersystem herausgebildet, dem heute drauf und dran ist, seine Grundlagen zu verlieren. Diese beziehen sich ungebrochen auf eine gesellschaftliche Reformphase, die darauf ausgerichtet war, immer mehr Menschen in ein gemeinsames Mittelstandsmilieu zu integrieren und in ein gemeinsames kulturelles Werteverständnis einzuüben. Mit dem Sloan "Kultur für alle" war es der Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik aufgetragen, die utopischen Potenziale freizulegen und mit Hilfe der von ihr geförderten (und damit staatlich als wertvoll angesehenen) Kunst die Gesellschaft zum Besseren zu wenden.

Gekommen ist alles ganz anderes. Wir sind heute konfrontiert mit einem Ausmaß an Segmentierung und Diversifizierung, wie es sich die Kulturpolitikerinnen und -politiker der Gründungsphase nicht haben vorstellen können. Entstanden sind ganz unterschiedliche kulturelle Milieus, die neben-, über- und untereinander existieren, von denen die Kulturpolitik viele noch gar nicht in den Blick genommen hat. Dazu kam ein Ausmaß an marktwirtschaftlicher Durchdringung des Kulturbetriebs, die auch öffentlich finanzierte Einrichtungen unter das Diktat der Marktakzeptanz stellte, um so über Erfolg oder Nichterfolg zu entscheiden.

Trotz aktueller Initiativen wie "Fair Pay" spricht wenig dafür, dass die Kulturpolitik in ihrer gegenwärtigen Ausrichtung noch einmal in der Lage wäre, die herrschende skandalöse Ungleichbehandlung der Akteurinnen und Akteure, auch in Bezug auf die verschiedenen Kunstsparten, in Frage zu stellen. Mit ihrer weitgehenden Konzeptlosigkeit hat die Kulturpolitik den Verlust des Primates der Politik selbst herbeigeführt. Sie hat sich von jeglicher gesellschaftlicher Perspektivenbildung verabschiedet und scheint heute auf die Pragmatik der wachsenden Krisenbewältigung eines zunehmend an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Bereiches beschränkt.

In ihrer Orientierungslosigkeit ringt sie heute mit der zunehmenden Infragestellung eines künstlerischen Qualitätsverständnisses, das über isolierte Zirkel von Fachleuten nicht mehr hinauszuweisen vermag. Und so breiteren Öffentlichkeiten nicht mehr vermittelt werden kann. Bei weiten Teilen der Bevölkerung hat sich der Eindruck einer selbstreferenziellen Blase vertieft, die mit ihren konkreten Lebens- und Arbeitsverhältnissen nichts zu tun hat.

Wenn aber die Qualität von Kunst als entscheidendes Förderkriterium in Frage steht, dann werden außerkünstlerische Kriterien immer wichtiger. Und damit solche, die darüber Auskunft geben, ob die künstlerischen Produktionsbedingungen fair verlaufen, die Gesellschaft in ihrer Vielfalt repräsentiert wird, virulente gesellschaftliche Problemlagen, reflektiert werden, die digitalen Medien hinlänglich berücksichtigt oder ganz unterschiedliche Publikumssegmente interaktiv einbezogen werden. Wie von der EU-Kommission bereits in Ansätzen vorgeführt, könnten diese Kriterien auch die Grundlage des künftigen kulturpolitischen Engagements bilden.

Kultur radikal neu gedacht und für alle zugänglich

Dazu kommt die prinzipielle Infragestellung nationaler Kulturvorstellungen, deren rigide Durchsetzung vor allem von rechtspopulistischer Seite vehement forciert wird. Umso wichtiger erscheinen heute europäische und internationale Kooperationen, denen es im Kampf gegen den wachsenden Autoritarismus in der Welt einen besonderen Stellenwert einzuräumen gilt. Wenn der legendäre Nürnberger Kulturdezernent Hermann Glaser bereits in den 1970ern ein für alle Menschen geltendes "Bürgerrecht Kultur" angemahnt hat, so könnte ein radikaler Umsetzungsversuch in Zeiten wachsender Ungleichheit heute darin bestehen, den Zugang zu kulturellen Aktivitäten für alle frei und unentgeltlich zu gestalten.

Kultur radikal neu denken - so könnte die neue Losung einer staatlichen Kulturpolitik lauten, die dem Kulturbetrieb noch einmal Relevanz bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme zuspricht. Und dafür seine Orte als einen großen Experimentierraum für alle öffnet. So könnte eine Vielzahl von Öffentlichkeiten geschaffen werden, in denen Menschen mit ganz unterschiedlichen sozialen Hintergründen zusammenkommen - Kunstschaffende ebenso wie Nicht-Kunstschaffende -, um gemeinsam zu überlegen, wie die selbstverordneten Grenzen der Kuhhaut überwunden werden könnten, im Sinne der anstehenden großen Neukonzeption, die nur mit vereinten Kräften innerhalb und außerhalb des Metiers zu schaffen sein wird.

In der römischen Mythologie bot Iarbas, der Häuptling der Numibier, der geflüchteten phönizischen Prinzessin Elissa (Dido) an, ihr ein Stück Land von der Größe einer Kuhhaut zu schenken. Sie schnitt daraufhin die Kuhhaut in sehr dünne Streifen, die sie längs aneinander legte, und umrundete damit ein beachtliches Stück Land, groß genug, um darauf die Burg des späteren Karthago zu errichten. Eine ähnlich kreative Herangehensweise im Kulturbereich wäre wohl in Enzensbergers - und unser aller - Sinn.

Diesen Mittwoch (8. Juni) findet an der Angewandten ein kulturpolitisches Symposium zum Thema statt. Anmeldung und Info: www.dieangewandte.at