Kommende Woche soll die EU entscheiden, ob die Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten bekommt. Manche Politiker, auch in Österreich, zeigen noch Skepsis. Vielfach wird die Ukraine als Teil der russischen Welt gesehen. Diese Sichtweise folgt dem von Russland propagierten und gepflegten Narrativ des kleinen Bruders, der genauso zur russischen Welt gehöre wie Belarus, und diese Welt sei eben die Grundlage eines eurasischen Reiches mit der Hauptstadt Moskau.

Damit wird die europäische Dimension, Geschichte und Prägung der Ukraine geleugnet und die Geschichte verdreht. Das russische Narrativ bedient sich dabei des semantischen Tricks, die Kyiver Rus (klingt ja wie Russland) als Ursprung des russischen Reiches zu beanspruchen. Doch schon die Handelsbeziehungen (und damit auch die politischen Beziehungen) der Kyiver Rus waren enger mit dem Westen verbunden als mit dem noch unter der Herrschaft der Goldenen Horde (eines der vier Khanate des mongolischen Reiches nach Dschingis Khan) stehenden Ostens.
Die Bezeichnung "Ukraine" geht auf das 14. Jahrhundert zurück, als sich die Völkerschaft als ethnische Einheit mit eigener Sprache formiert hatte, auch wenn sich noch kein eigener Staat etablierte. Der Kreml war damals übrigens noch eine Ansammlung unspektakulärer Holzgebäude. Mitte des 17. Jahrhunderts, unter Bohdan Chmelnyzkyj, war der Kosakenstaat zu schwach, um einen eigenen Staat zu gründen. Unter den möglichen Unterstützern war das Osmanische Reich schon zu schwach, um eine reale Hilfe zu leisten, das Krim-Khanat der Tataren und das Moskauer Reich hatten kein Interesse an einem starken Nachbarstaat, die Westeuropäer hatten nach dem 30-jährigen Krieg genug Probleme, um sich noch in einen Kampf im fernen Osteuropa einzumischen.
"Brüderliche" Umarmung
Das Moskauer Reich nutzte aber geschickt die Situation, und begann, im Widerspruch zu den ukrainisch-russischen Vereinbarungen des Jahres 1654, die Ukraine ins Reich zu inkorporieren. Der Versuch von Ivan Mazepa, einem der Hetmanen (Feldherren) der Ukraine, sich im Nordischen Krieg (1700 bis 1721) mit schwedischer Hilfe aus der "brüderlichen" Umarmung zu befreien, endete erfolglos. Als Resultat blieb die Ukraine lange an Russland gebunden, nur ein kleiner westlicher Teil wurde im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts Teil des Habsburger-Reiches.
Die Selbständigkeit der Ukraine als eigener Staat nach dem Ersten Weltkrieg dauerte nicht lange. Wieder war der Rest Europas mit eigenen Problemen zu sehr beschäftigt, sodass man kein Interesse an der Ukraine zeigte und Lenin das Land für die Sowjetunion kassierte.
Erst 1991 erreichte die Ukraine mit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches eine staatliche Eigenständigkeit. In sämtlichen Gebieten des Landes brachte die Abstimmung über die Unabhängigkeit klare Mehrheiten dafür. Vom Anbindungsprozess an die EU, der allen anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks angeboten wurde, aber blieb die Ukraine noch ausgeschlossen.
In zwei massiven Protestbewegungen (2004 und 2013/2014) mussten sich die Bürger des Landes gegen neuerliche Versuche der "brüderlichen" Umarmung durch Moskau wehren. Beide Protestbewegungen hatten eine klare demokratische und europäische Motivation, und der Euromaidan (2013/2014) - auch "Revolution der Würde" genannt - trug Europa schon im Namen, endete aber mit der Annexion der Krim und dem russischen Einmarsch im Donbas. Seither befindet sich die Ukraine erneut in einem militärischen Abwehrkampf gegen die Moskauer Herrschaft.
Bedrohung für ganz Europa
Wladimir Putins Anspruch, Zar Peter dem Großen gleich ein neues russischen Imperium zu errichten, ist eine Bedrohung für ganz Europa. Die Freiheit und Selbständigkeit der Ukraine entscheidet damit auch über die weitere Freiheit und Selbständigkeit Europas. Die Zuerkennung des Status als -Beitrittskandidatenland ist also nicht nur von Bedeutung für die Ukraine, sondern auch für die Europäische Union selbst.
Die ukrainischen Politiker sind realistisch genug, um zu wissen, dass der Kandidatenstatus noch nicht der Beitritt ist, und dass auf dem Weg zum Beitritt noch viele Aufgaben erledigt werden müssen. Sie kennen das Beispiel der Länder Südosteuropas. Nun aufkommende Vorschläge, der Ukraine als Alternative zum EU-Beitritt irgendeine Zwischenstufe anzubieten, sind kontraproduktiv. Österreich wollte ja auch nicht in einem EWR verbleiben, sondern in die EU.
Der Beitrittskandidatenstatus ist aber auch für die EU selbst die Chance, endlich wieder auf die Ursprünge der europäischen Einigung zurückkommend, die eigentliche Dimension des Einigungsprozesses herauszuarbeiten: einen europäischen Raum von Freiheit und Sicherheit, in dem Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit gelten, Europa eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik betreibt und somit auf der Ebene der Weltpolitik den nicht kleiner werdenden Herausforderungen entgegentreten kann.
Die Alternative wäre eine neuerliche politische Aufsplitterung Europas in nationale Eigenwilligkeiten, die Putin mehr nutzen würde als den europäischen Nationalstaaten. Europa aber sollte seine Zukunft selbst gestalten.