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Das milliardenteure Kompetenzproblem

Von Peter Brandner

Gastkommentare
Peter Brandner ist Ökonom und Mitbegründer der Initiative Die Weis[s]e Wirtschaft.
© privat

Der Finanzminister wird mehr ausschütten, als er als kalte Progression eingenommen hat - war das gewollt?


Die kalte Progression entsteht aus dem Zusammenspiel von nomineller Einkommenssteigerung, Inflation und progressivem Steuertarif. Ohne mindestens eine dieser drei Voraussetzungen abzuschaffen, kann auch die kalte Progression nicht abgeschafft, sondern nur mit einem Kompensationsvolumen abgegolten werden - gerne zu 100 Prozent. Das will die Regierung. So sollen gemäß Vortrag zum Ministerrat die Tarifgrenzen und Absetzbeträge im Ausmaß der gesamten Inflation angepasst werden, zu zwei Dritteln automatisch - das wäre bei 6 Prozent Inflation eine Erhöhung um 4 Prozent. Mit dem Volumen, das sich aus der Erhöhung des restlichen Drittels ergäbe, könnte die Politik die Tarifstruktur verteilungspolitisch motiviert steuersenkend ändern.

Im politischen Kontext ist gut gemeint oft das Gegenteil von gut gemacht. Das Problem, das übersehen wurde: Der Betrag, der sich aus der Verschiebung der Tarif- und Absetzbeträge ergibt, entspricht den Kosten, die so dem Finanzminister entstehen. Er entspricht aber nicht den Einnahmen, die als kalte Progression ins Budget geflossen sind. Diese sind deutlich niedriger.

Warum? Weil viele Steuerpflichtige nicht immer ein im Jahresvergleich höheres Einkommen im Ausmaß der Inflation erzielen. Es kann sogar sinken - wenn sie in die Pension wechseln, bei Wechsel in Teilzeit, Karenz oder Arbeitslosigkeit. Ohne höheres Einkommen keine höhere Steuerquote, daher auch keine Progression, erst recht keine kalte Progression. Der Unterschied zwischen Kosten und Einnahmen ist bedeutsam: Im Zeitraum zwischen den Steuerreformen 2009 und 2015 spülte die kalte Progression kumuliert 7,8 Milliarden Euro ins Budget, eine laufende Tarifanpassung mit der Inflationsrate hätte aber 11 Milliarden Euro gekostet.

Die budgetären Einnahmen aus der kalten Progression betragen - je nach makroökonomischem Umfeld - meist 50 bis 70 Prozent der Kosten einer Tarifanpassung. Mit der automatischen Erhöhung der Tarif- und Absetzbeträge um zwei Drittel der Inflationsrate wird also bereits das gesamte, wenn nicht sogar ein höheres Volumen rückverteilt, als im Budget als kalte Progression gelandet ist. Um die Überkompensation der kalten Progression mit dem restlichen Drittel zu vermeiden, ist der Abschaffungsmechanismus dringend zu überdenken. Der Finanzminister könnte - ungeplant - dank der realen Progression vor einer dauerhaft fallenden Lohnsteuerquote bewahrt werden. Dem Leistungsfähigkeitsprinzip folgend erhöhen gestiegene Realeinkommen die Steuerquote.

Die historische Reform startet mit einer Pointe: Die 2022 im Vergleich zu 2021 niedriger prognostizierte Lohnsteuerquote (Tarifsenkung 2. Stufe, Familienbonus) impliziert, dass es im Budget - gesamtwirtschaftlich betrachtet - überhaupt keine progressionsbedingten Mehreinnahmen geben wird. Kein kalter Progressions-
Euro 2022. Der Finanzminister muss aber 2023 durch den Abschaffungsmechanismus bei 6 Prozent Inflation 1,6 Milliarden Euro "zurückerstatten". Das kann man begrüßen - bloß hat es mit der "Abschaffung der kalten Progression" nichts zu tun.