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Neutrale sind nicht unsolidarisch

Von Pascal Lottaz

Gastkommentare
Pascal Lottaz (Jahrgang 1985) hält einen Doktortitel in internationalen Beziehungen vom National Graduate Institute for Policy Studies (GRIPS), in Japan. Heute forscht und lehrt der Schweizer zur Geschichte und Funktion der Neutralität an verschiedenen Universitäten in Tokio.
© privat

Militärische Bündnisse tragen immer das Risiko in sich, große Dummheiten zu begehen.


Hand aufs Herz: Die momentane Neutralitätsdebatte in Österreich ist doch in Wirklichkeit eine Diskussion über einen Nato-Beitritt. Welches andere Militärbündnis gäbe es denn noch in Europa (oder weltweit), dem Österreich beitreten könnte, sollte es sich entscheiden, die Neutralität aufzugeben? In diesem Zusammenhang sollte ein Vorzug der Neutralität hervorgehoben werden, der bisher selten erwähnt wurde: Sie schützt vor den allergrößten Dummheiten.

Neutralität generell bedeutet, einem (spezifischen) Krieg nicht beizutreten, und die sogenannte immerwährende Neutralität bedeutet, von Anfang an zu versprechen, niemals einem Krieg beizutreten, weder auf der einen noch auf der anderen Seite, egal wer ihn anfängt, egal wie "gerecht" er erscheinen mag, egal wie gut die Argumente dafür sind. Es ist ein Versprechen, das die Schweiz 1815 und Österreich 1955 der Weltgemeinschaft abgegeben haben und bisher auch einhalten. Kriege werden beweint, beklagt, verurteilt, aber nicht mitgeführt.

Manche stellen das heute als unsolidarisch dar, gerade im Ukraine-Krieg, in dem Gut und Böse so klar, so deutlich zu sein scheinen, und fordern, dass auch neutrale Staaten wie Österreich oder die Schweiz der Ukraine aus Solidarität Waffen liefern sollten. Diese Meinung kann man vertreten, nur sollte man sich dann auch gewahr sein, dass man dafür plädiert, mit unseren Waffen russische Soldaten zu töten - aus Solidarität. Ist das gut?

Gerade die österreichische Diskussion über Solidarität mit der Nato und die Möglichkeit eines Beitritts ist schon überraschend, hat doch gerade Österreich in den vergangenen 150 Jahren mehrmals die Erfahrung machen müssen, dass Militärallianzen eben gerade nicht immer Schutz, sondern ungewollte Kriege bringen können. Man denke nur an 1914. Wenn der Bündnisfall eintritt und die Logik von Militärallianzen zuschnappt, besteht die Wahl häufig nicht mehr zwischen Mitmachen oder nicht, sondern es ist nur noch die Frage, wie viele Truppen man wohin senden muss.

1938 war ja auch keine glücklichere Erfahrung, als Österreich einer anderen Militärmacht beigetreten ist. Hierbei ist vor allem wichtig zu erinnern, dass ein Gutteil der österreichischen Bevölkerung die deutsche Invasion vulgo "Anschluss" jubelnd unterstützte. Hätten sie gewusst, dass dem der Zweite Weltkrieg mit seinen Millionen unschuldigen Opfern samt zehn Jahren alliierter Besatzung folgen würde, hätten sie vielleicht anders reagiert. 1938 jedoch lautete das Motto: "Deutschland ist die Zukunft, das ist Europa, der Fortschritt auf dem Kontinent." Der "Anschluss" war vor allem unter der Jugend Österreichs sehr beliebt.

Politische Fehler (Dummheiten) werden nicht absichtlich begangen. Sie passieren, weil man die Zukunft, die Konsequenzen des eigenen Tuns und die Reaktionen anderer Akteure falsch einschätzt, weil man sich im Moment des Fehlers nicht vorstellen kann, dass in X Jahren Y passieren und zur Situation Z führen wird.

Erinnern wir uns doch kurz an den illegalen Angriff der USA und ihrer "Koalition der Willigen" (Großbritannien, Polen, Australien, Spanien, Dänemark, Italien) auf den Irak im Jahr 2003, der Millionen Menschen das Leben kostete. Deren Grundlage war die längst widerlegte Behauptung, Saddam Hussein hätte Massenvernichtungswaffen, und die Verbündeten müssten jetzt einen legitimen Selbstverteidigungskrieg im Irak führen (eine Kriegsrechtfertigung, die der russischen Erzählung der Selbstverteidigung in der Ukraine erstaunlich nahe ist). Jeder Staat, der sich daran beteiligte, hat Blut an den Händen.

Wird die Nato immer auf der Seite "der Guten" stehen?

Die Nato war am Irak-Krieg nicht beteiligt, dafür bombardierte sie 1999 ohne UN-Mandat Jugoslawien und überschritt 2011 ihr Mandat für eine Flugverbotszone über Libyen aufs Gröbste, indem sie Angriffe auf Militärstützpunkte des Gaddafi-Regimes flog, die schlussendlich zu dessen Untergang (und Muammar al-Gaddafis Ermordung) führten - ganz zu schweigen vom politischen Chaos, in dem Libyen versunken ist.

Die Nato ist stolz darauf, dass sie heute auch "Out of Are"-Einsätze - also Missionen außerhalb des Bündnisgebietes - durchführen kann. Man muss die eigene Fantasie nicht einmal extrem dehnen, um sich vorzustellen, dass in Zukunft einmal ein Angriffskrieg unter Nato-Leitung geführt werden könnte, der sich im Nachhinein als genauso erlogen herausstellen könnte wie der Irak-Krieg. Die Verlockung, Militärbündnisse nicht nur defensiv, sondern offensiv auszuleben, lässt sich nicht wegdiskutieren. Gerade wir in Europa haben unsere Erfahrungen mit Militarismus und seinen ungeahnten Auswüchsen gemacht.

Vor solchen Fehlern schützt die Neutralität. Sie stellt sicher, dass ein Staat nicht später einmal herausfinden muss, dass er sich früher doch besser nicht beteiligt hätte. Die Schweiz hat 200 Jahre lang in keinem europäischen Krieg mitgemacht - war das denn schlecht? War das unsolidarisch? Ja, die Neutralen werden nie einen Orden für Tapferkeit oder Heldenhaftigkeit gewinnen. Sie werden auch nie auf der Seite der Sieger stehen. Aber sie werden sich auch nie auf der "falschen Seite der Geschichte" wiederfinden. Sie werden nie bei den Nazis sein oder bei den Faschisten. Sie mögen mit ihnen handeln und sich mit ihnen arrangieren, ja, aber sie werden sich nicht an ihren Kriegen beteiligen. Sie werden nicht selber morden.

Wer kann garantieren, dass die Nato immer auf der Seite "der Guten" stehen wird? Dass sie nie eine ganz große Dummheit begeht? Neutrale stehen auf ihrer eigenen Seite. Sie sind zwar nicht militärisch solidarisch, können und sollen aber diplomatisch, ökonomisch und friedensfördernd solidarisch sein. Die Neutralität bewahrt sie vor ganz großen Dummheiten wie etwa einem "Anschluss" an die falsche Seite.