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Arme, Reiche und Klischees

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Beliebte Stereotype über die Verteilung der Einkommen bilden nur einen Teil der Wirklichkeit ab.


Die Behauptung, dass "die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer" würden, gehört zum interessengetriebenen Alarmismus der politischen Linken in Europa wie die Sorge radikaler Klimaretter, die Welt würde sich schon in wenigen Jahren in eine brennende, unbewohnbare Hölle verwandeln.

Zumindest erstere Behauptung wird regelmäßig mit einer klaren politischen Agenda vorgetragen: dem Wunsch, Vermögen und Erbschaften hoch zu besteuern, wie das etwa dieser Tage der grüne Sozialminister Johannes Rauch anregte. Lobby-Gruppen wie Oxfam haben mittlerweile beachtliches Geschick darin entwickelt, diese Botschaft unter die Leute zu bringen - sie gilt heute bis in gebildete Schichten hinein quasi als Dogma, das nicht zu hinterfragen ist.

Was ausgesprochen schade ist, denn bei kühler Betrachtung zeigt sich ein wesentlich spannenderes und differenzierteres Bild: Tatsächlich stieg die Zahl der Wohlhabenden mit einem Vermögen von mehr als einer Million Dollar im vergangenen Jahr einer Studie der Beraterfirma Cap Gemini zufolge um 7,8 Prozent auf 22,5 Millionen. Ihr Gesamtvermögen nahm dabei um 8 Prozent zu. Die Zahl der besonders Reichen (mehr als 30 Millionen Dollar Besitz) erhöhte sich sogar um 9,6 Prozent, ihr Gesamtvermögen um 8,1 Prozent.

Das scheint vorerst einmal gängige Klischees zu bestätigen; dass in den nächsten zwei Generationen 70 Prozent dieses weltweiten Vermögens an Frauen vererbt werden, ist ein interessantes Detail. Was dabei aber nicht berücksichtigt wird, ist die dramatische Entwicklung an nahezu allen Finanzmärkten seit Jahresbeginn, die gerade große Vermögen schrumpfen ließ wie einen Cashmere-Pulli im Hauptwaschgang. Schon im ersten Quartal 2022, also noch vor den kräftigen Kursverlusten der vergangenen Woche, büßte das Vermögen des reichsten Prozentes in den USA sagenhafte 701 Milliarden Dollar ein, alleine Tesla-Gründer Elon Musk musste Verluste von happigen 64 Milliarden Dollar seit Jahresbeginn hinnehmen.

Dass nun in den USA und wohl auch in Europa die Zinsen in nächster Zeit steigen werden, heißt sowohl für Immobilien - in die Reiche traditionell investiert sind - als auch für Aktien wenig Gutes; mit weiteren Verlusten ist zu rechnen. Was dazu führt, dass der Anteil der Reichen am globalen Besitz wieder sinkt und jener der weniger Reichen wieder wächst.

Noch wichtiger ist freilich, dass auch in den Jahren steigenden Reichtums der Reichen die welt-
weite Armut nicht zugenommen hat, sondern stark zurückgegangen ist. Lebten 1990 noch knapp zwei Milliarden Menschen weltweit in extremer Armut, so sank dieser Wert bis 2015 auf 730 Millionen ab; und das, obwohl die Weltbevölkerung in diesem Zeitraum von 5,3 auf 7,4 Milliarden Menschen gewachsen ist - eine geradezu unvorstellbar erfolgreiche Armutsbekämpfung. Das heißt natürlich nicht, dass das Problem Armut gelöst wäre, ganz im Gegenteil: Corona und Ukraine-Krieg bereiten hier neue Sorgen. Aber das Klischee von den Reichen, die auf Kosten der Armen immer reicher werden, hält einem Reality-Check einfach so nicht stand.